"Du kannst nicht an Weihnachten alleine bleiben", entscheidet Magdalena bestimmt und knetet mein Bauchfett. Ich protestiere schwach. Magdalena wischt sich das Öl von den Händen, fischt einen Zettel aus ihrer Tasche und beginnt zu zeichnen. Ein Wirrwarr aus Linien und Vierecken entsteht auf dem Papier. Darunter schreibt sie: Block 86, Treppe 2, Stock 5, Appartement 65. 25.12., 13:00 Uhr. Und ihre Telefonnummer. Ich bleibe zurück mit dem aufgeklappten Stadtplan und dem Zettel. Und mit gemischten Gefühlen. Will ich da hin? Muss ich? Ich beschließe, es als Experiment zu betrachten. Wenn sie in meine Welt nicht aufnehmen kann, dann muss ich wohl einen Blick in die ihre werfen.
25. Dezember 2003, 12:30 Uhr. Meine Haustür geht kaum auf, die Treppe ist vereist. Drei Hundetiere springen freudig an mir hoch. Ich schiebe mich durch weiße Massen zum Gartentor: es ist zugefroren. Dahinter und davor unendliche Schneeberge. Ich zerre, rüttle, zwänge mich durch den entstandenen Spalt. Mein Auto ist unter einem Eisberg begraben, den der Schneepflug just an dieser Stelle angehäuft hat. Nur der Himmel weiß, wo die Schneeschaufel ist. Schließlich gebe ich mich geschlagen, gehe ins Haus zurück und wähle die Nummer von Magdalena. Ich will mich entschuldigen, dass ich nicht kommen kann.
Magdalena nennt mir einen Bus, doch ich kenne die Haltestelle nicht. Ich schlage die U-Bahn vor, mit anschließendem Fußmarsch. "Fußmarsch?" - Eine entsetzte männliche Stimme aus dem Hintergrund. Die Stimme ruft eine Straßenbahnnummer, die von der U-Bahnhaltestelle bis vor ihr Haus fährt. Ich stopfe hastig einen Rotwein und einen Sekt in den Rucksack, einen Christstollen und eine Schachtel selbstgemachter Pralinen. Packe mich ein wie für eine Polartour: Anorak, Handschuhe, 3 Meter Schal, Moonboots. Eine Handvoll Münzen in die Anoraktasche, den Rest in den Bauchgurt darunter.
Der Rucksack passt kaum durch den zuvor hart erkämpften Spalt im Gartentor. Doch dann stapfe ich durch kniehohe Schneewehen mitten auf der Straße. Es ist anstrengend, aber irgendwie schön. Am Eingang der U-Bahn sitzt ein Mann und bettelt. Bevor ich überlegen kann, bin ich vorbei, kaufe meine Fahrkarte. Schwitze in der überheizten U-Bahnstation, reiße meine Jacke auf und den Schal herunter. Sehe mich um. Alle anderen sind bis oben hin angezogen. Wie die das nur aushalten? Auf der Treppe zur Bahn Richtung "Bucur Obor" wieder ein Bettler. Gerade als ich vorbeigehe, streckt er seine Hand aus. Ich fasse in meine Anoraktasche und fördere einige Münzen zutage, drücke sie in eine rauhe, schmutzige Hand. Denke, Mist, das waren zuviele. Nun muss ich an den Bauchgurt für die nächste Fahrkarte. Eine Sekunde lang überlege ich, dem alten Mann einfach den Christstollen zu schenken. Was der wohl denken würde? Zu spät, ich bin schon vorbei. In der U-Bahn bettelt ein Zigeunerjunge. Kinderbettelei will ich nicht fördern. Eine junge Frau hält ihm einen zerknitterten Schein hin. Schließlich ist Weihnachten.
Ich steige aus, frage, wo man Straßenbahntickets kaufen kann. Der Mann redet schnell. Bin stolz weil er nicht merkt, dass ich Ausländerin bin. Wenn ich will, lasse ich es merken. Aber heute will ich nicht. Ich finde die Straßenbahn auf Anhieb. Gucke angestrengt durch die gewellte Plastikscheibe des Tickethäuschens. Es ist niemand drin. Eine Frau mit Schnapsnase eilt vom Nachbarstand herbei und verkauft mir schnell zwei Fahrscheine. Ich strippe, um an den Bauchgurt zu kommen. Die Frau grinst. Nun habe ich mich wohl doch als Ausländerin enttarnt.
Die Straßenbahn ist erstaunlicherweise pünktlich. Ich renne hin, zwänge mich in den vollen Wagen. Wo wollen sie nur alle hin, an Weihnachten? Ich dränge mich wissend zum Stempelgerät vor. Stecke meine Karte hinein. Hier wartet man vergeblich auf den automatischen Klick. Ich betätige den mechanischen Stempel. Es macht keinen Abdruck, offenbar ist die Farbe aus. Eine alte Frau empfiehlt mir, die Karte nicht nochmal hineinzustecken. Wenn man doppelt stempelt, gibt's Ärger. Die Kontrolleure kennen alle Tricks. Und unterstellen alle, die sie kennen. Jeder kann schließlich ein unschuldiges Gesicht machen. Vier Haltestellen, dann kommt die Brücke, die Magdalena beschrieben hat. Ich dränge mich raus, stehe auf einer vierspurigen matschigen Straße. Um mich herum ragen graue Betonblocks in die Höhe. Die Straße ist von zugeschneiten Autos gesäumt, dazwischen Eisberge. Irgendwo muss das Zeug schließlich hin, wenn man sein Auto ausgräbt. Wie gut, dass ich ohne da bin. Ich sehe mich um, entdecke einen Block, auf dem mit Malfarbe "Nr. 86" geschrieben steht. Zähle zwei Treppenaufgänge. Bin mir nicht sicher, aber zu stolz, Magdalena mit dem Handy anzurufen, damit sie herunterkommt. Drücke den Code des Interfons. Wer weiß, wo ich lande. Das Gerät piept, rattert, brummt. Muss ich hineinsprechen? Aber nein, es hat ja gar kein Mikrofon und keinen Lautsprecher. Während ich ratlos das Interfon betrachte, klickt etwas an der vergitterten Tür. Ich rüttle daran. Nochmal, fester, und die Tür geht auf.
Sie gibt den Weg frei in die überirdisch hässlichen Eingeweide des Wohnblocks. Ich ignoriere den Lift. Nur ein Lebensmüder würde anders handeln. Es ist muffig und duster. Ich steige tapfer 5 Stockwerke hoch. Zähle die Appartements, denn hier stehen keine Namen an der Tür. Was, wenn jetzt ein Erdbeben kommt? Mir fällt die Geschichte ein, die Magdalena mir erzählt hat. Wie sie ihren ersten Mann verlor, im Erdbeben 1977. Der ganze Block war damals eingestürzt. Sie lag im Krankenhaus und hatte gerade ihr erstes Kind entbunden. Ein Mädchen, Mona. Als sie vom Einsturz erfuhr, rannte sie im Winter mit Bademantel und Plastikschlappen vom Krankenhaus nach Hause. Sah den eingestürzten Block und konnte es immer noch nicht glauben. Sie hoffte, dass er mit dem Auto weggefahren war. Aber das Auto stand hinter dem Schutthaufen des Blocks. Da glaubte sie es. Ich verzähle mich mit den Stockwerken. Wo bin ich? Manche Türen haben Löcher, so dass man ins Innere spähen kann. Nicht alles darin ist sehenswert. Ich frage mich, was mich gleich erwartet. Fühle mich wie ein Außerirdischer in einer anderen Welt.
Ein Mann mit rundem Metzgergesicht streckt seinen Kopf aus einer Türe. "Casa Magdalenei?" frage ich vorsichtig. Der Mann nickt und grinst breit. Er ergreift meine Hand mit dicken, rauhen Fingern und gibt mir einen Handkuss. "Eu sunt Nina" stelle ich mich vor. Magdalena umarmt mich, Bussi links, Bussi rechts. Ihre Tochter Mona tut dasselbe. Relu, ihr Mann, nimmt mir galant den dicken Anorak ab. Ich muss daran denken, was Magdalena erzählt hat. Wie er sie damals im Krankenhaus besucht hat, nach der Entbindung. Relu war ein Kollege - und der Verlobte einer Freundin. Kurz nach dem Tod ihres ersten Mannes hat Magdalena ihn geheiratet.
Wir gehen in ein winziges, vollgestopftes Wohnzimmer. Ich werde abgeschnuppert, fasse in ein kurzes, glattes Fell. Das Fell wedelt mit dem Schwanz und adoptiert mich auf Anhieb. Ich lächle, lasse meine Blicke schweifen. Blinkende Lichterketten entlang des Wohnzimmerschranks fordern unmittelbare Aufmerksamkeit. Schließlich ist Weihnachten. Die letzten 15 Lämpchen der Kette leuchten nicht mehr. In der Ecke ein kleines, spärliches Bäumchen, das sich unter Glitzergirlanden und Glaskugeln biegt. Gegenüber eine Balkontür mit verglastem Mini-Balkon. Das Toilettenfenster führt auch auf den Balkon. Vor der Türe ein Klavier, verhangen von einem blassen holländischen Webteppich. Ein "Ernst Krause" Klavier aus Berlin, aus dem 18 Jahrhundert, erzählt Magdalena stolz.
Auf dem Tisch steht ein Sammelsurium an unterschiedlichen Gläsern für jede Sorte Getränk. Außerdem fünf Gedecke. Relu schenkt leicht rosafarbenen Tuica in die kleinste Sorte Gläser. Er schmeckt ein wenig nach Zwetschkenkernen. Ich lasse mich belehren, dass für den Tuica auch die Kerne verarbeitet werden. Meine Geschenke werden auf dem Klavier aufgebaut, neben einer Schachtel Fertigkuchen und ein paar Flaschen rumänischem Wein und Sekt. Die selbstgemachten Pralinen landen auf dem Tisch.
Magdalena hat für Mona und mich Krautwickel mit Reis und Nüssen gemacht. Mona ist auch Vegetarierin. Die anderen essen fleischgefüllte Kohlrouladen und Braten. Mona sitzt neben mir und wir unterhalten uns über gesunde Ernährung und Naturheilkunde. Mona ist winzig, zierlich, fast ungeschminkt. Sie hat dunkles, langes Haar und rehbraune Augen. Sie wirkt gleichzeitig zerbrechlich und stark, selbstbewusst und zurückhaltend. Wir verstehen uns auf Anhieb - mit und ohne Worte.
Relu fragt, ob ich an der Botschaft arbeite, beantwortet seine Frage aber gleich selbst. Er hat auch für die Botschaft gearbeitet, fährt er fort. Er hat die Bodyguards massiert. "Wir sind also fast Kollegen", betont er stolz. Ich freue mich über die momentane Bedeutungslosigkeit meiner Position. "Leider gibt es jetzt keine Bodyguards mehr", fährt Relu fort. Magdalena holt vom Schrank eine Weihnachtskarte, die ihr eine ehemalige Massagekundin von der Botschaft aus Deutschland geschrieben hat. Ich lese höflich die Karte der unbekannten Kollegin. Dann zeigt sie mir Photos ihres Bruders aus Kanada. Alle schnattern fröhlich durcheinander. Relu schenkt mir "Puterea Ursului" ein, die "Kraft des Bären". Der leichte Rotwein passt angenehm zu den Krautwickeln. Ich begrabe mein Vorurteil über gekochten Kohl. Zum Nachtisch gibt es Schokoladenkuchen und Ananaskompott. Ich bin froh, dass Mona nicht viel isst. So kann ich meine Portionen auch ein wenig einbremsen.