Sibiu bei Nacht

von Hans-Ulrich Schwerendt

Ein Jahr ist es her, dass wir das letzte mal in Sibiu waren. Wir sind sehr gespannt, was sich verändert hat, seit in Sibiu wieder der Alltag eingekehrt ist. Hat sich der Trubel um die Kulturhauptstadt gelegt? Es ist Mitte Oktober, ein normaler Wochentag und die Stadt ist spät am Abend wie ausgestorben. Touristen sind kaum noch da. Thomas und ich schlendern durch die Stadt und landen in einem kleinen italienischen Cafe am Ende des Piata Mara. In der Auslage liegen noch drei kleine Cremetörtchen, ein paar Männer sitzen vor einem überdimensionalen Fernseher und verfolgen gespannt ein Fußballspiel. Rumänien hat ein Länderspiel und es steht 3 zu 2 für Steua Bukarest. Das Führungstor haben wir auf unserem Bummel durch die Stadt mitbekommen. Aus allen Cafes und offenen Fenstern erschollen zeitgleich Jubelschreie. Thomas und ich plündern die Reste der Auslage an der Kuchentheke und ich bestelle mir einen Cappuccino. Von den Törtchen gesättigt, stehen wir kurze Zeit später vor unserer Pension. Thomas ist sehr müde, ich war es bis vor kurzem auch noch! Hätte ich mal doch lieber keinen Cappuchino getrunken. Normalerweise stört mich das nicht, aber dieser Cappuccino war ein echter italienischer und nicht der Instantcappuccino, den ich gewöhnlicherweise trinke. Während Thomas sofort in einen Tiefschlaf fällt, sitze ich hellwach auf meinem Bett und ärgere mich über meine Dummheit. Kurzentschlossen nehme ich meinen Fotoapparat und mein Stativ und ziehe los durch die kleinen Gassen von Sibiu/Hermannstadt. Nach den ersten Probebildern verfalle ich in einen Fotorausch und experimentiere stundenlang mit meinem neuen Fotoapparat. Kaum einen Mensch treffe ich in dieser Zeit, nur zwei Männer sprechen mich in der ganzen Zeit an. Einer ist ganz begeistert von meinen ersten Versuchen, der andere will mir auf Englisch seine Philosophie über Fotos erklären. Da er genauso schlecht Englisch kann wie ich und er auf Grund seines wahrscheinlich hohen Alkoholwerts ganz schöne Probleme hat, komplette Sätze zu artikulieren, verstehe ich nur Fragmente. Aber schnell kommt sein Taxi, sodass ich weiter fotografieren kann! Später kommen noch eine ganze Menge Menschen. Das Fußballspiel scheint zu Ende zu sein. Erst am nächsten Tag registriere ich, warum alle so still und gedrückt nach Hause gegangen sind: Bukrarest hat 3 zu 5 verloren. Gegen drei Uhr zwinge ich mich aus meinem Rausch und kehre zurück in die Pension. Am nächsten Abend landen wir wieder bei unserem Italiener. Diesmal aber trinke ich heiße Schokolade.
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