Weihnachten 1989

Der erste Teil dieser Erzählung ist hier zu finden:
Der 21. Dezember 1989 in Hermannstadt aus der Sicht eines Soldaten.

22. Dezember

Der Diktator hat nach seiner letzten Rede fluchtartig den Balkon verlassen und wir sind wieder in die Einheit eingerückt. Es herrscht eine merkwürdige Stimmung bei allen. Es ist das Gefühl, welches man hat, wenn große Ereignisse passieren, wenn man sich bewusst wird, dass man gerade Zeitzeuge von geschichtlichen Umwälzungen wird.

Das Gefühl, welches uns alle beherrscht, ist eine Mischung aus Angst und Hoffnung, aus Respekt und Ungeduld. Wir wissen, dass wir gerade einer Situation entkommen sind, die schrecklich hätte enden können. Es hätte gereicht, wenn irgendeiner der Demonstranten aggressiv auf uns reagiert hätte, wenn einer unserer Vorgesetzten den Schiessbefehl gegeben hätte und es hätte ein Blutbad auf dem Großen Ring in Hermannstadt gegeben. Wir sind froh, dass es nicht dazu kam und keiner von uns auch nur einen einzigen Schuss abgeben musste. Bestimmt gab es einige unter uns, die gerne ihre Waffe benutzt hätten...

Der Abend in der Einheit verläuft relativ ruhig, die Kantine hat auf Notrationen umgestellt, es gibt kein warmes Essen, denn die Küche die uns beliefert, liegt in einem umkämpften Gebiet in der Nähe der Polizeistation und dem Passamt, wo die heftigsten Kämpfe in Hermannstadt stattfinden. Wir verbringen den Abend nach dem Abendessen vor dem einzigen Fernseher, der funktioniert. Es werden Bilder aus Bukarest gesendet, die einem kalte Schauer über den Rücken laufen lassen. Panzer rollen durch die Stadt, überall wird geschossen und gestorben. Dazwischen werden Bilder aus dem verlassenen Regierungspalast gezeigt, wo sich ein Revolutionskomitee gebildet hat und deren Mitglieder abwechselnd Parolen und Vorschläge für Zukunft machen. Alles sehr konfus für uns unpolitische Menschen und Soldaten. Die Bilder wiederholen sich und irgendwann, als wir merken, dass da irgendwie nichts mehr Neues nachkommt, gehen wir schlafen und fallen in einen unruhigen und unerholsamen Schlaf.

23. Dezember 1989

Nach dem Frühstück müssen wir zurück auf die Stube, es gib im Moment nichts zu tun für die Soldaten einer Arbeitseinheit "DIRIBAU" (von "DE-RU-BAU" eine Deutsch-Rumänische Baugesellschaft, von welcher der Volksmund den Namen DIRIBAU für eben solche militärische Arbeitseinheiten ableitete - rumänisch offiziell hießen diese Einheiten zusammengefasst: DLEN Directia lucrari in economia nationala).

Im Fernsehen laufen dieselben Bilder wie am Vorabend auch, kaum Neues, die Nachrichten wiederholen sich, was unsere Informationslage nicht wirklich verbessert. Nachrichten werden wie vorher auf den Gerüchtwegen verbreitet, das Vertrauen in die Nachrichten ist nicht gegeben. Europa Libera ist der einzige Sender, der auch während der Revolution die verlässlicheren Nachrichten bringt. Diese Nachrichten werden wie eh und je über den Mundfunk weitergegeben und entsprechend verzerrt.

Während wir gelangweilt vor dem Fernseher sitzen und irgendwie nichts mit uns anfangen können, werde ich in die Schreibstube bestellt. Ich soll mich beeilen, heißt es, es wäre ein wichtiger Anruf für mich. Ich falle aus allen Wolken und kann mir kaum vorstellen, wer mich in der Einheit anruft und stürme runter. So schnell bin ich die zwei Stockwerke noch nie runtergeflitzt. Es ist 11 Uhr vormittags, als ich ein außer Atem im Büro des Hauptmanns eintreffe. Er überrascht mich mit einer Frage, die ich erst später verstehen und einordnen kann. Er fragt, ob ich ein gutes Verhältnis mit meiner Großmutter hätte, und ob ich sehr an ihr hinge. Nun ist es so, dass in unserer Familie überbordende Gefühle und starke Zugehörigkeit irgendwie nie vorgelebt wurden, und daher bei mir nicht besonders stark vorhanden sind. Zudem hat sich meine Großmutter nie großartig um mich gekümmert, ich kenne sie als eine eher abweisende Frau, eine kühle Frau, die dazu neigt, dauernd zu klagen über ihr Schicksal, über die anderen und über alles. "Nein", antworte ich dem Hauptmann, "ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu ihr, aber auch kein schlechtes, nein, ich hänge nicht an ihr." Er hält den Hörer in der Hand und reicht ihn mir, während er sagt: "es ist dein Bruder, deiner Oma geht es anscheinend nicht so gut".

Ich nehme den Hörer und melde mich. Am anderen Ende der Leitung stammelt mein Bruder Unzusammenhängendes, ich verstehe nur: "Oma ist tot, kannst du kommen?" Auf meine Nachfrage, was den passiert sei, bekomme ich keine Antwort, nur ein verzweifeltes: "Kannst wenigstens du kommen? Vater meinte, er könne deswegen nicht aus der Arbeit weg." Ich versuche noch weitere Infos zu bekommen, aber aus meinem Bruder ist nichts raus zu bekommen. Ich verabschiede mich, lege auf und stehe ein bisschen verloren vor dem Hauptmann, der mich ansieht und wartet, dass ich was sage. Er weiß wohl aus Erfahrung, dass ich nun heim wollen würde, um nach dem Rechten zu schauen. Er sagt, bevor ich überhaupt nach einem Ausgang frage, dass es schon in Ordnung sei. Ich könne gehen, aber wegen der verhängten Ausgangssperre in der Garnison, könne er mir keine offizielle Ausgangserlaubnis ausstellen, ich müsste auf eigenes Risiko gehen. Falls irgendetwas passieren sollte, Anruf in der Einheit reichte, er würde bestätigen, dass ich nicht ohne Erlaubnis die Einheit verlassen hätte. Ein Papier hierfür wolle er mir aber nicht aushändigen, das wäre ihm zu gefährlich, das müsse ich verstehen.

Ich befinde mich auf dem Heimweg, zum Glück wohne ich nicht allzu weit weg von der Einheit, es sind keine 10 Gehminuten. Irgendwie habe ich es nicht wirklich eilig, ich lasse mir Zeit und versuche meine Gedanken zu ordnen. Der Bruder klang richtig verzweifelt, was ist wohl passiert? Meine Phantasie geht mit mir durch, ich stelle mir schon alles Mögliche und Unmögliche vor, von einem Querschläger, der ihr in ihrer Wohnung den Tod gebracht haben könnte, bis zu einem friedlichen Tod. Aber da wäre mein Bruder bestimmt nicht so verzweifelt gewesen. Ich höre ihn sagen: "Es ist schrecklich, mach dich auf etwas gefasst..." Während ich noch so in Gedanken vor mich hin laufe, merke ich kaum, dass ich bereits im Hof bin und direkt auf meinen Bruder zu laufe. Er steht im Hof, ist kreidebleich und kommt auf mich zu, um mich zu begrüßen. Sie fällt knapp aus, die Begrüßung, er fragt mich, ob ich einen empfindlichen Magen hätte und ob ich einen Schnaps trinken wolle, bevor er mit mir zur Oma hochgeht. "Nein", sage ich, "ich habe weder einen schwachen Magen, noch will ich einen Schnaps, so schlimm kann es doch gar nicht sein, ich bin schließlich einiges gewohnt." Was ich dann aber zu sehen bekomme und vor allem, was meine Riechzellen aushalten müssen, ist schlimmer, als alles, was ich mir vorstellen konnte.

In der Wohnung meiner Großmutter ist es heiß wie in einem Backofen, obwohl die Fenster seit einiger Zeit alle geöffnet sind und draußen Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt herrschen. Der große Kachelofen gibt weiterhin seine Wärme ab, er glüht fast und die Kacheln zeigen Risse, obwohl er mindestens solange ausgeschaltet ist, wie die Fenster geöffnet sind. Wie lange war der wohl an, der Kachelofen, dass er eine solche Hitze von sich gibt? Ein süßlicher, ekelerregender Verwesungsgeruch hängt in der Luft und ich sehe meine Großmutter am Boden liegen in fortgeschrittenem Verwesungszustand. Die Kerzen in der Wohnung sind alle geschmolzen. Die Temperatur beträgt 48°C. Die spätere Autopsie ergibt einen Todeszeitpunkt, der in etwa 3 Tage zurück liegt. Genau zum Zeitpunkt, an dem die Unruhen losgingen, muss ihr etwas zugestoßen sein. Aber was? Ist sie gefallen und ohnmächtig geworden? Wurde sie Opfer eines Verbrechens? Diese Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich mir Rechenschaft gebe, dass es hier nichts zu tun gibt und es keinen Sinn hat, in dieser Wohnung auch nur eine Minute länger zu bleiben und sich der Hitze und dem Gestank auszusetzen. Ich mache kehrt und gehe raus. Der Magen rebelliert. Ich muss mich fast übergeben. Jetzt brauche ich den Schnaps, den mir mein Bruder vorhin angeboten hatte.

Was tun? In der Stadt herrschen Unruhen, die Lage ist ungewiss. Die Polizei ist nicht erreichbar, die Bestattungsunternehmen sind mit den Opfern der Revolution mehr als beschäftigt. Ich war noch nie mit einem Todesfall konfrontiert. Als meine Uroma starb, war ich gerade mal 5 Jahre alt, da wurde mir verständlicherweise nicht erklärt, was man in einem solchen Fall macht. Und schon gar nicht, wie man sich verhält, wenn die Todesursache ungeklärt ist. Da gibt es bestimmt andere Vorgehensweisen als bei einem natürlichen Tod.

Das Telefon läutet und am anderen Ende ist mein Vater, der uns mitteilt, dass der Gerichtsmediziner auf dem Weg zu uns ist, wir sollen daheim bleiben und auf ihn warten und ihn zur toten Oma führen, sobald er eintrifft.

Wir rätseln mit meinem Bruder, was der Oma zugestoßen sein könnte. Wir eruieren, wann er sie das letzte Mal lebend gesehen hat. Das Verhältnis zwischen ihm und ihr ist nicht das Beste. Sie litt an Altersverwirrung und an Verfolgungswahn und hatte ihn unlängst zu Unrecht beschuldigt, er hätte sie bestohlen. Sie hat wie die meisten alten Leute aus der Nachkriegszeit größere Mengen Bargeld im Haus, welches sie von Zeit zu Zeit an andere Stellen versteckt, weil sie befürchtet, beim Verstecken ihrer Barschaft beobachtet zu werden. Dann vergisst sie das neue Versteck und sucht ihr Geld. In einer solchen Phase muss sie gewesen sein, als sie meinen Bruder beschuldigt hat, was zur Folge hatte, dass er sich fortan weigerte, ihre Wohnung zu betreten, sie zu besuchen. Wir rekonstruieren den Zeitpunkt als er sie zum letzten Mal lebend gesehen hat. Er liegt etwa eine Woche zurück.

Die Stunden vergehen, kein Gerichtsmediziner in Sicht, erst am späten Nachmittag zu gleicher Zeit mit meinem Vater trifft auch der Gerichtsmediziner ein. Er erzählt uns, dass er unglaublich viel zu tun hat, an allen Ecken der Stadt werden Tote gemeldet. Er ruft eine spezielle Nummer an und wenig später kommt auch ein Polizist, der den Fall aufnimmt. Die Leiche der Großmutter wird abgeholt und in das Gerichtsmedizinische Institut gebracht, in welchem sich noch viele andere Leichen befinden. Die Revolution hat viele Opfer gefordert. Es wird uns mitgeteilt, dass es dauern kann, bis der Leichnam zur Bestattung freigegeben wird. Es müssen Untersuchungen gemacht werden, es muss die Todesursache festgestellt werden etc.

Für mich gibt es nichts mehr zu tun, ich könnte eigentlich in die Einheit zurückkehren. Mir ist aber nicht danach und ich beschließe, meine Freundin zu besuchen, die sich am anderen Ende der Stadt bei ihrer Freundin aufhält. Gemeinsam mit meinem Bruder mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Nach zahlreichen Umwegen, die wir nehmen müssen, um die Straßensperren zu umgehen, erreichen wir das Haus der Freundin, welches sich neben einer anderen Militäreinheit befindet. Kaum eingetreten, läutet schon das Telefon und mein Vater teilt mir mit, dass mein Kommandant sich nach mir erkundigt hat und befohlen hat, ich solle auf dem kürzesten Weg zurück in die Einheit.

Der kürzeste Weg führt allerdings an der gegenüberliegenden Militäreinheit und an der Straßensperre vorbei. Wir trinken noch schnell einen Kaffee und ich mache mich auf den Weg. Während ich das Haus verlasse und versuche, einen etwas anderen Weg einzuschlagen, um die Straßensperre zu umgehen, sehe ich wie die Soldaten an den Barrikaden miteinander tuscheln und mit dem Finger auf mich zeigen. Ich beschleunige den Schritt, um aus dem Sichtfeld der beiden zu entkommen, es hilft aber nichts. Ich sehe den einen über die Barrikade hüpfen und im Laufschritt auf mich zukommen. Zwei Möglichkeiten habe ich: Weglaufen und einen Schuss in den Rücken riskieren oder stehen bleiben und sehen was kommen wird. Ich entscheide mich stehen zu bleiben und harre der Dinge die da kommen.

Der Soldat hält mir die AK-47 unter die Nase und weist mich an, ihm zu folgen. Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Vor nicht allzu langer Zeit stand ich auf der anderen Seite einer AK-47-Mündung, jetzt ist eine auf mich gerichtet... Mir wird fast schlecht. Ich sehe, dass der Kollege keinen Spaß versteht, und ich bin sicher, dass er bei der leisesten Bewegung, die er als Bedrohung einstuft, abdrücken würde. Ich spüre das. Im Augenwinkel sehe ich die beiden Mädels und meinen Bruder kreidebleich im Hof der Freundin stehen. Ich gehe mit hinter dem Kopf verschränkten Armen meinem Schicksal entgegen, ich weiß nicht was mich erwartet.

Mein Militärausweis den ich als einziges Papier bei mir trage, spricht nicht wirklich für mich. Deutscher Name, besondere Einheit (DLEN), der in dieser besonderen Situation durchaus als Tarnung ausgelegt werden könnte. Hinzu kommt, dass ich mich daheim umgezogen habe und zivile Kleidung trage. Zivile Papiere besitze ich nicht, die werden in Rumänien bei der Einberufung von den militärischen Behörden einbehalten.

Nach dem Verhör, nach vielen Fragen zur Identität und zu dem Grund meines sog. Fluchtversuchs bzw. mich der Kontrolle an der Straßensperre zu entziehen, werde ich erstmal in die Arrestzelle gesperrt. Hier bin ich nicht alleine. Zwei dunkle Gestalten kauern am Boden. Beide haben schwarze lange Ledermäntel an, kurz geschorene Schädel und das Aussehen von Pitbulls. Ich bleibe neben der Tür stehen, während die Zellentüre hinter mir krachend ins Schloss fällt. Bleierne Stille folgt. Meine Zellengenossen schauen mich grimmig an. Lange Minuten verstreichen, bis einer von beiden mich mit folgenden Worten anspricht: "Wer bist du? Zu welcher Spezialeinheit gehörst du?" Ich beschließe erst mal nicht zu antworten. Ich hoffe dass der Offizier, der mich verhört hat, in meiner Militäreinheit anruft und ich bete zu Gott, dass der Hauptmann zu seinem Wort steht und bestätigt, dass ich weder desertiert bin noch irgendeiner Spezialeinheit angehöre. Weitere lange Minuten verstreichen. Ich hoffe dass dieser Spuk bald vorbei ist. "Wer bist du?", belfert mich der andere an. "Was ist dein Auftrag?" Ich schweige und kauere mich hin. Den Harten und Geheimnisvollen markieren scheint mir in diesem Fall die bessere Lösung zu sein. Ich sehe keine Veranlassung, mit den beiden ins Gespräch zu kommen. Ich muss damit rechnen, dass in der Zelle Mikrofone versteckt sind und die Gestalten da zum Verhörprogramm gehören. Solange ich nicht gezwungen werde zu sprechen, beschließe ich zu schweigen. "Das geht euch gar nichts an! Ich gehöre nicht zu Eurer Kategorie!", sind die einzigen zwei Sätze die ich in den zwei Stunden, die ich in der Arrestzelle verbringen muss, an die beiden richte. Sie unterhalten sich untereinander und versuchen heraus zu bekommen, wer ich bin. Sie kramen in ihren Erinnerungen, an Einsätze, an Ausbildungslehrgänge, an Sitzungen, um herauszufinden, ob sie mich nicht doch irgendwo einordnen können. Sie können natürlich nicht wissen, dass ich nur aufgrund dummer Zufälle hier in dieser Zelle eingesperrt bin und dass sie mich keineswegs kennen können, weil ich eben nicht zur Securitate oder zu einem sonstwie gearteten Geheimdienst oder Spezialeinheit gehöre. Der einzige Grund, warum ich hier bin ist, die Tatsache, dass ich meine Freundin besuchen wollte und wohl wissend, dass ich eigentlich zurück in meine Einheit gehen hätte sollen, versucht habe, die Kontrolle an der Straßensperre zu umgehen.

Nach zwei Stunden geht die Zellentür auf, ich werde angebrüllt, ich soll mich erheben und rauskommen. Ich werde erneut dem Offizier vorgeführt, der mich verhört und eingesperrt hat.

Der Ton ist aber ein anderer. Wenn er vorher gebrüllt hat und meinen Worten keinen Glauben geschenkt hat, so klingt er jetzt wesentlich versöhnlicher. Er hat tatsächlich in der Einheit angerufen und meine Version der Geschichte wurde von meinem Vorgesetzten bestätigt. Ich atme auf. Die zwei Stunden, die ich in der Gesellschaft der beiden Securitatemitarbeiter verbracht habe, lassen mich heute noch schauern. Der Offizier bringt mich zum Tor, weist mich an, sofort zu meiner Einheit zurück zu kehren, und sagt mir: "Gut dass du nicht mit den beiden gesprochen hast, das hätte dich deine Freiheit kosten können!" Auf meine Gegenfrage, wer die beiden sind, erhalte ich keine Antwort.

In der Einheit muss ich Bericht erstatten. Der Hauptmann erklärt mir, dass ich großes Glück hatte, weil der Offizier, der mich verhört hatte, sein Freund gewesen sei, mit dem er zusammen die Offiziersschule besucht hat. Ich gebe mir Rechenschaft, dass dieses Abenteuer auch ganz anders hätte ausgehen können. Ich werde zum strengsten Stillschweigen über diese Geschichte angehalten und zurück auf die Stube geschickt, wo die anderen Soldaten sind. Ich erzähle ihn lediglich von den seltsamen Todesumständen meiner Großmutter. Alle meine Kameraden sind überzeugt, dass sie Opfer eines Securisten geworden ist, der sich entweder verstecken wollte oder aus ihrer Wohnung Diversion betreiben wollte. Ich selber bin überzeugt, dass es sich wohl eher um einen Unfall gehandelt hat. Wir werden die Wahrheit nie erfahren. Nach drei Tagen erhalten wir die Nachricht, dass der Leichnam freigegeben ist und beerdigt werden darf. In dem Obduktionsbericht steht: "Todesursache unbekannt. Wahrscheinlich Unfall oder ein Schlag auf den Hinterkopf." Weitere Untersuchungen werden von der Polizei nicht gemacht. Die hat anderes zu tun in diesen wirren Zeiten.

Am Abend kursiert die Nachricht von der Verhaftung Ceausescus. Es werden Bilder gezeigt, in denen er aus einem Panzerwagen aussteigt und mit seiner Frau Elena abgeführt wird. Jubel bricht bei uns aus. Die Revolution scheint vorbei zu sein, die Freiheit hat gesiegt.

24. Dezember

Der Tag beginnt mit einer Überraschung für alle. Während des Morgenappells werden wir aufgeklärt, dass wir unsere Kommandanten, ob Leutnant oder Hauptmann, ab sofort nicht mehr mit Genosse Leutnant oder Genosse Hauptmann anzusprechen haben, sondern mit Herr Leutnant. Die Zeit der Genossen scheint vorbei zu sein. Wir werden von den Kommandanten über die Lage informiert, wie sie uns auch aus den Medien größtenteils bekannt ist. Es gibt nichts, was uns neu ist. Wir werden informiert, dass der Diktator verhaftet wurde und dass ihm der Prozess gemacht werden wird. Die Sicherheitslage ist noch nicht ganz klar, die Ausgangssperre in der Garnison ist weiter in Kraft. Es wird keinen Ausgang geben, solange die Ausgangssperre in Kraft ist. Sobald diese aufgehoben ist, verspricht der Kommandant, dass die Hermannstädter Ausgang erhalten, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen.

Auf den Strassen herrscht Freude, die Menschen jubeln und wünschen sich frohe Weihnachten. Menschen kommen an das Tor der Einheit und bringen uns Brot, Wurst, Speck, Schnaps und Wein. Jeder gibt, was er erübrigen kann. Bei uns auf der Stube herrscht auch Feierstimmung. Es gibt reichlich zu essen und zu trinken. Wir feiern den Sieg der Revolution.

Ein Bürger hat sogar einen Weihnachtsbaum am Tor abgegeben, der nun bei uns auf der Stube steht und mit Watte verziert wurde. Am Abend sitzen wir zusammen, Rumänen, Ungarn und Siebenbürger Sachsen und unterhalten uns über Weihnachtsbräuche, die Revolution, die Zukunft und alles Mögliche. Einige haben bissel zu viel getrunken und fangen an, zu randalieren. Die Disziplin in der Einheit nimmt ab und man hat fast den Eindruck, in einem Ferienlager zu sein, nicht aber beim Militär.

25. Dezember

Einige von uns wachen verkatert auf, andere in Haft. Für den inhaftierten Diktator wird es sein letzter Tag sein. Er wird am Nachmittag kurz vor 15 Uhr Ortszeit in Târgoviste in einer Militäreinheit gemeinsam mit seiner Frau Elena Ceauşescu erschossen. Die Bilder werden überall ausgestrahlt, als gälte es, alle noch Kämpfenden zu überzeugen, dass es sich nicht lohnt, weiter zu kämpfen.

Den ganzen Nachmittag werden Bilder vom Schauprozess und der Leichname des Diktatorenehepaars gezeigt. Jedem, der einigermaßen denken kann, muss klar sein, dass es sich hier um eine Inszenierung der Macht handelt und dass diejenigen, die die Macht übernommen haben oder noch übernehmen werden, keine redlichen Revolutionäre sind, sondern dass im Prinzip die zweite Garde aus dem Palast der Regierenden sich an die Macht putscht.

Am Abend werde ich erneut in die Sprechstube zitiert und habe ein denkwürdiges Gespräch mit dem Kommandanten. Unter anderem fragt er mich, ob ich jetzt, da Rumänien ein freies Land ist, immer noch ausreisen möchte. Ob ich nicht lieber hier bleiben möchte und das Land wieder aufbauen möchte. Rumänien bräuchte solch tapfere Leute wie mich. Ich fühle mich geschmeichelt und antworte ausweichend. Im Prinzip steht für mich außer Frage, die Ausreise zu verschieben oder davon abzulassen. Zu lange wollen wir schon ausreisen, zu groß ist das Misstrauen geworden, zuviel ist passiert.

Als Regierung wird in den nächsten Tagen die Front der Nationalen Rettung (FSN) eingeführt, die am 26. Dezember den Putschistenführer und Reformkommunisten Ion Iliescu zum provisorischen Staatspräsidenten ernennen wird. Die Opfer der Revolution belaufen sich auf über 1000 Personen.

Der Autor ist uns persönlich bekannt, möchte aber anonym bleiben.

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