Mein Nachbar, der König
Teil 2
Wer war außerdem hier? Solche, die der Drang zu Höherem her trieb oder die Sehnsucht nach dem Nächsten, oder andere, die die Zeit totschlagen mußten und es allein nicht schafften, oder die erhofften, daß sie verjüngt und geheilt an Leib und Seele ihres Weges zögen. Oder die, die tatsächlich krank waren und noch etwas vom Leben haben wollten. Vor allem waren es aber bejahrte Damen, denen die Männer weggestorben oder weggelaufen waren oder deren Kinder sich weggestohlen hatten, solche und ähnliche ...
Was nicht fehlte, waren die Unikate: Das sportliche Ehepaar im besten Alter – sie mit Frisur der 30er Jahre à la Leni Riefenstahl, er ein drahtiger Vierziger, zu Fuß unterwegs zu allen Bergesspitzen, so daß er zu den Mahlzeiten verspätet und in Wanderkluft erschien – schweißtriefend und nach Alpenrausch riechend. Es fehlte nicht die stolze Großmutter mit den drei halbflüggen Enkelkindern, die mit Ernst und Anstand die Eßmanieren zelebrierten. Es mangelte nicht an Italienern mit Kind und Kegel und der Mamma, und mindestens zwei Familien, wo alles zugleich redete. Es belebte das Bild der überhöfliche Junggeselle mit Klumpfuß, der wegen einer Dame auf den Lift verzichten konnte und mühsam die Treppe hinaufhumpelte. Und der Mathematiker, allein am Tisch – ungekämmt und lose bekleidet, der einen mit verstörtem Blick musterte, wenn man ihm Guten Tag oder Guten Appetit wünschte.
Mittendrin und lautstark die Wohltäterin, eine Vertriebene aus dem einst reichsdeutschen Warthegau, die nach dem verlorenen Krieg mit nichts begonnen und es mit ihrer Hände Arbeit zu Vermögen gebracht hatte. Das sie nostalgisch verteilte. So hatte sie im letzten Jahr 540 Pakete nach Breslau versandt, bei ihr immer noch Breslau. Dafür hatte sie 480 Dankesbriefe erhalten, die sie als Zeitdokument hatte in Rehleder einbinden lassen.
Am Rande die Pfarrerswitwe namens Erna Sommerwahn, die im Sommer fromme Erholungsheime aufsuchte oder antike Stätten, wo sie jeden Cicerone besserwisserisch in Verlegenheit brachte. Die dagegen im Winter Reiseberichte las. Und Ikonen malte nach allen Regeln der Kunst – betend und bei Kerzenlicht.
In einem besonderen Licht und nicht ganz von dieser Welt war die Tragödin in vorgezogener Rente – mit dem Air echter Trauer und hinreißend wie eine Priesterin. Drei Namen hatte sie: nach ihrem Vater Wächter, nach ihrem verblichenen Mann Thorn, jedoch bekannt, geliebt, verehrt, beklatscht, wenngleich ein wenig vergessen, unter dem Bühnennamen Arabella Thorwächter.
Über das Personal, das diente und bediente, hieß es, daß der Erzbischof geäußert haben sollte, es erinnere ihn an überirdische Wesen, so freundschaftlich, so frohgemut, so dienstwillig, was in der Bibel demütig heißt. Sollten die Angestellten des Hauses nie aus der Rolle fallen – einen Teller fahren lassen, einen Becher zerschlagen, einen Gast mit Rotwein bekleckern oder einfach anschnauzen – man müßte meinen, es seien Engel und hier wäre ein Zipfel vom Paradies. Was in Badgastein längst jeder wußte, das mit dem Zipfel vom Paradies.
Es veränderte sich schlagartig die Konstellation für die drei Einzelgänger, nachdem Frau Maier eingetroffen war. Sie hieß Maier, Theodora Amalia Maier, und rauschte mit dem Taxi an – aus Genf. Genf–Badgastein, eine beachtliche Strecke; und das ganze mal zwei, wenn man bedenkt, daß der Chauffeur zurückfahren mußte. Ihn entlohnte sie auf der Stelle mit vielen Banknoten, die Kurgäste im Vorhof sahen fasziniert zu. Frau Theodora Amalia Maier bewohnte gleich zwei Zimmer, die aber nicht verbunden waren, so daß sie über den Korridor herüber- und hinüberwechseln mußte. Das eine benützte sie bei Nacht, das andere bei Tag. Mon dieu, man kann doch nicht vierundzwanzig Stunden derselbe Mensch bleiben! Man kannte sie, denn in Badgastein hatte sie schon über vierzigmal die Kur gebraucht. Die anwesenden Gäste raunten. Die einen: Sie ist eine Millionärin. Andere: Ihre Kinder haben sie entmündigt.
Frau Maier wußte Bescheid und machte Ordnung in den Köpfen der Leute: Siebenbürgen habe nichts mit dem Siebengebirge zu tun, geschweige mit Sibirien, und RO nichts mit Rhodesien, vielmehr beides mit Rumänien, Romania. Siebenbürgen, rumänisch Transilvania, sei das Kernland von Rumänien, allerdings erst seit 1918 rumänisch, vorher als Erdély zu Ungarn gehörig und noch vorher österreichisches Kronland und Großfürstentum. Hier lebten außer den Rumänen viele Ungarn, verschwindend wenige Deutsche und Juden und Armenier – dafür Zigeuner wie Sand am Meer. Zigeuner dürfe man im Übrigen sagen, sie nennen sich dort selber so, fügte sie hinzu.
Woher sie das so genau wisse? »Ach«, sagte sie leichthin, »mein Nachbar, der König.« Und sie winkte kollegial zum Tisch der Siebenbürger hinüber, die plötzlich Rumänen hießen, obschon sie das gerade nicht waren.
Auf dem König-Carol-Weg, benannt nach dem ersten rumänischen König, der hier kurz vor der Jahrhundertwende zur Kur geweilt hatte, sprach Frau Maier Frau Maria an, die den Pfad zur höher gelegenen Kaiser-Wilhelm-Promenade erkundete.
»König Michael, der Urenkel«, sagte Frau Maier, »das ist mein Nachbar.« Frau Maria Kapdebo war stehen geblieben. Die Herren näherten sich, grüßten, verhielten den Schritt, während ein Strom von Informationen aus dem Munde von Frau Maier die Gruppe am Weitergehen hinderte: »Die Königin Ana ist eine gute Gärtnerin. Sie macht alles allein. Mit dem Schubkarren weiß sie genauso gut zu hantieren wie mit Spaten und Rechen. Sie ist eine Prinzessin aus dem Hause Bourbon-Parma, war im ’44er bei der Landung in der Normandie dabei.« Des Königs Stammbaum bestehe nur aus erstklassigen Kaisern und Königinnen, la crème de la crème. »Und den hat man verjagt. Ach Gott!« seufzte sie und sah die drei mitleidig an: »Ihr armer König. Nach ’47 im Exil mußte er mit seiner Hände Arbeit seine Familie erhalten. Tüchtige Leute, beide! Leider kein Thronfolger, aber fünf Töchter. Er wohnt in einem Bungalow neben mir – in Versoix bei Genf.« Und sagte über Michael von Hohenzollern-Sigmaringen, der sich trotzig de Romania nennt, und über das Königshaus, Zaun an Zaun mit Frau Maiers Villa, noch vieles, was man in Rumänien nicht wußte.
Sehr langsam spazierten die vier weiter, Frau Maier ging der Atem aus. Schweißperlen zogen Rillen durch den Puder. Sie stützte sich auf Frau Kapdebo und sprach weiter. Es gab dunkle Stellen in ihrem Vortrag: »Die dreiundfünfzig Türen von meinem Haus, eine Plage, immer vergesse ich, eine abzusperren. Unlängst komme ich nach Hause, alles im Eisschrank ist vergiftet. Ich rufe die Polizei. Wissen Sie, was der Offizier vom Dienst fragt: Warum gehen Sie am Sonntag in die Kirche? Nur soviel!«
Der Abend versprach Kühlung, man hatte Zeit, setzte sich auf eine Bank vor der Büste des Kaisers Wilhelm I., man nahm Frau Maier in die Mitte und ebenfalls den Erzbischof.
Sie berichtete in weitschweifigen Satzgebilden, die oft ein schwarzes Loch offenließen, so daß Inhalt verlorenging. »Mein Mann wollte partout in Genf ein Haus haben, am Genfer See, und zwar wegen der Wellen auf dem Bodensee. Er war Architekt, hat nach dem Krieg Düsseldorf aufgebaut, bei jedem fertigen Stadtviertel fiel ein Haus oder ein Appartement für unsere Kinder ab – die Tochter, den Sohn. Gestorben ist er drei Tage, nachdem wir das fertige Haus am See bezogen hatten. An der Bise ist er gestorben.«
Die Bise sei Schuld an seinem Tod. Jetzt bestehe ihr Leben aus Warten, Warten auf einen Anruf von den Kindern, von einem, vom andern. »Der Sohn lebt in Mallorca, Architekturbüro, die Tochter in Düsseldorf, gute Kinder, pläsierliche Menschen, doch weit weg.« Der Mann der Tochter sei ein Syrer. »Er verwaltet unser Familienvermögen. Und er ist der Sohn eines Propheten.« Sein Vater sei in einer Moschee begraben. »Tot und mutterseelenallein wie ich in meiner Villa. Ich würde mich zu Tode langweilen. Ob man Ruhe findet? Sacre coeur!« Sie trug Hosen, cremefarbene Hosen und ein himmelblaues Jackett mit schwarzen Manschetten und schwarzem Revers: »Ein wenig Schwarz muß sein. Es zieht die Blicke an, es macht attraktiver.«
n Karlovy Vary war sie aufgewachsen. »Ein Kurort, mein Gott, von Welt, große Welt, k. u. k. und Jugendstil, Wiener Sezession; mein Vater – eine Welt, die nie wiederkehrt. Er war Hotelbesitzer.« Mitten im Schwärmen fiel ihr ein, daß sie schleunig ins Hotel müsse, denn jeden Augenblick könnten die Kinder anrufen. Man würde noch im Foyer weiterparlieren. Die Rumänen stünden ihr nahe wegen des Königs. Allerdings, seine fünf Töchter könnten nicht Rumänisch.
Herr Maria wünschte einige Erläuterungen, während alle vier hinaufhasteten: Erstens, weshalb habe der Herr Gemahl in Genf gebaut, wo er die Brise nicht vertragen konnte, und nicht am Bodensee, näher an Düsseldorf oder an anderen Seen? »Sehr einfach: Wegen der Kinder.« Am Genfer See könne man eine Sturmwarnung noch durchgeben, am Bodensee aber fiele der Orkan so rasch ein, daß keine Wetterprognose möglich wäre, alle Segelboote kenterten, und mit ihnen die Kinder. Selbst wenn sie schwimmen könnten, ertränken sie wie Maikäfer. Das leuchtete ein. »Übrigens heißt das Bise; und die anderen Seen sind eiskalt, schlimm für den Unterleib von Frauen und Kindern.«
Zweitens: Wieso sei der Herr Gemahl an der Bise gestorben? »Weil dann die Arbeiter nicht arbeiteten.« Oft sei er aus Deutschland zu einem Termin nach Genf gereist – mit dem Zug und nie anders –, die Baustelle jedoch sei leer gewesen, mitten in der Woche kein Mensch zugegen. »Wegen der vermaledeiten Bise hat er sein Leben lassen müssen.«
»Der bedauernswerte Tod – warum durch die Bise?« Der Gallenstein, den der berühmte Professor Dumont zu Lebzeiten nicht entdeckt hatte, der sei schuld am Tod des Mannes. Am Gallenstein wiederum seien schuld die Arbeiter, die nicht arbeiteten. »Und daran schuld der böse Wind.« Gegen diese Kausalkette war nichts einzuwenden. Drittens: Warum fragte der Polizeioffizier, ob die Dame in die Kirche ginge? Was habe das mit dem Einbruch zu tun?
»Weil er und der Maire von Geneve Kommunisten sind, und wie alle Genfer gegen Ausländer.« Das verstand sich nicht von selbst, das mußte man glauben.
Ob ihre Muttersprache Deutsch sei, wollte Frau Maria Kapdebo wissen. »Ach«, sagte sie, »Deutsch habe ich von der Mutter gelernt, Tschechisch von den Dienstboten und mit dem König spreche ich Französisch.«
Man trennte sich gedankenvoll. Die abgeschirmte Runde der drei hatte ein Loch bekommen.
Mit sanfter Gewalt nahm sich Frau Maier in den folgenden Tagen der drei Ostländer an. Aus war es mit der Beschaulichkeit im Dahinwandeln und mit der Geruhsamkeit noch mehr: Auf die heilige Siesta – den östlichen Mittagsschlaf, ein Ritual in jenen Breiten – hieß es immer öfter zu verzichten.
So auch an diesem Tag, denn plötzlich kam sanftlächelnd die Order: »Monsieur Bischof, ich habe für drei Uhr den Bus von der Windischgrätz-Höhe bestellt, ich lade Sie dorthin zu einer Jause ein, 1600 Meter über dem Meer, dort müßte es kühler sein.« Was dem Kurpfarrer nicht gelungen war, konnte Frau Theodora Amalia Maier auf ihr Konto buchen: Um drei Uhr waren die Aufgebotenen zur Stelle. Frau Maier ließ sich von der Schauspielerin begleiten, deren marmorne Schönheit allen, deren scheue Konfirmandinnenaugen nur wenigen aufgefallen waren: »Machen Sie keine Priesterin aus ihr«, brummelte Frau Maier, »sie ist auch nur ein Mensch.«
Frau Arabella fragte, ob sie als Schauspielerin es wagen dürfe, in der Gesellschaft eines Bischofs zu erscheinen. Der Bischof schwieg. Hatte er die seltsame Frage überhört? Herr Maria Kapdebo gab eine Antwort, die die Dame erröten ließ, ohne daß sie es spielte: »Nicht die Gesunden, die Kranken bedürfen des Arztes!«
Dann stiegen sie in den Kleinbus, und in halsbrecherischer Fahrt kutschierte die Gastwirtin die Gäste zur Höhe Windischgrätz. Der Bischof hatte sich neben die Schauspielerin gesetzt, ehe seine Beistände eine andere Sitzordnung vorschlagen konnten. Auch am späten Nachmittag, beim Abstieg durch den Wald, als man alles hinter sich hatte, gingen sie nebeneinander und konversierten, ja, bei einer jähen Stelle ließ der Bischof sich von der Schauspielerin stützen. Und damit kam die Welt ins Lot für dieses abschüssige Stück Weges, denn der Bischof ließ sich weiterhin höflich von ihrer Hand geleiten, damit er nicht ausrutsche und hinfalle.
Durch Frau Maier erfuhr die Schwarze Madonna, daß der Bischof während dieses abenteuerlichen Abstiegs souverän Auskunft gegeben hatte über alle Fragen von Frau Arabella Thorwächter: Krankheit, Tod und ewiges Leben. Gleich zu Anfang, im Bus noch, hatte sich Frau Thorwächter erkundigt, wie man den Bischof anreden müsse, welches seine Titulaturen seien. »Alles Relikte der Vergangenheit«, hatte er geantwortet. »Nennen Sie mich bei meinem Namen, den höre ich sowieso nie, weil mich alle mit meinem Titel anreden.« Doch Herr Kapdebo hatte sich ungefragt eingeschaltet und in einem Privatissimum die Frage geklärt. Das wechsle, erläuterte er. »Innerkirchlich ›Hochwürden‹, die Bauern sagen gerne ›Hoher Herr‹, die übrigen Leute ›Herr Bischof‹. Die staatlichen Stellen sprechen von ›Seiner Exzellenz‹, die anderen Kirchen benutzen den Titel ›Eminenz‹. Die Orthodoxen treiben es auf die Spitze mit ›Der Hochgeweihte‹, ›Der Zuhöchstgeheiligte‹. Bei uns schwelgt man in Titeln ebenso wie in Österreich. Mit der Zeit vergißt man seinen Namen.« Frau Arabella wurde es schwindlig.
Das mit der Kühle bei 1600 Metern – Irrtum. Die Hitze war unerträglich. Die Sonne glühte durch den Sonnenschirm wie durch ein Vergrößerungsglas. Mit Most und Mehlspeisen in der Hand flohen sie in den schmalen Schatten einer Bergkiefer. Sie saßen hintereinander wie in einem Bobschlitten. Am besten hatte man den Erzbischof platziert: in den Kernschatten. Doch auch dieser wurde aufgeweicht, wenn ein fiebriger Hauch die Äste auseinanderbog.
Der Kirchenfürst gab sich menschlich, verscheuchte mit energischen Bewegungen die Wespen, vor denen man im Fernsehen gewarnt hatte, und bastelte aus einer Zeitung einen Tschako, einen Sonnenhut. »Das hat uns unsere Mutter gelehrt«, sagte er. Man schloß aus der Formulierung, daß er nicht nur eine Mutter hatte, sondern auch Geschwister.
Frau Maier wurde es gefährlich heiß: Puder und Schminke zerrannen, und die poröse, kränkliche Haut wurde sichtbar. Frau Maria Kapdebo kauerte zu ihren Füßen im versengten Gras, fahndete nach einem Farnkraut und fächerte der Echauffierten, die abwesend lächelte, Luft zu.
Als man durch den Wald zu Tale stieg, fragte Herr Maria Kapdebo Frau Maier, wie sie so lebe. »Ach, ich lebe, damit die Zeit vergeht! Am Morgen bleibe ich lange liegen, damit die Zeit vergeht, dann frühstücke ich und lese die Zeitung ausgiebig, damit die Zeit vergeht. Früher fuhr ich mit dem Taxi einkaufen, bis mich mein Nachbar, der König, warnte: ›Damit weisen Sie sich als reiche Frau aus, locken die Diebe an.‹ So schleppe ich die Sachen einzeln zu mir herauf. Die Zeit vergeht sogar rascher. Nach dem Essen schlafe ich, damit die Zeit vergeht – die Siesta, eine gute Erfindung der k. u. k.-Monarchie. Am Nachmittag ergibt es sich manchmal, daß die Königin und ich Tee trinken – oder ein Plausch über den Zaun vertreibt die Langeweile. Die Königin ist sehr beschäftigt, ja geplagt mit den vielen Töchtern, die sie leider nicht standesgemäß verheiraten konnte – Könige sind Mangelware –, mit Enkelkindern und dem Haushalt. Die Königin kauft alles selber ein. Sie fährt mit dem Auto! Von ihr weiß ich, daß sie entthronte Könige sind und damit arme Hascherl. Bei ihnen haben Diebe nichts verloren.«
Man ruhte auf einer Bank im Wald. Spaziergänger grüßten, wie das hier Ortsbrauch war. Man grüßte zurück. Frau Maier gestand, daß sie in ihrem jetzigen Leben eigentlich nur auf die Anrufe ihrer Kinder warte. Damit bringe sie ihre Tage zu, wenn sie es richtig bedenke und die Frage vom Herrn Maria recht verstanden habe.
Als man am Hotel Schah von Persien vorbeiflanierte, verhielt Frau Maier den Schritt und sagte wehmütig: »Deinem Schicksal entgehst du nicht!« Dann wollte sie vom Erzbischof darüber aufgeklärt werden, ob ihr entschlafener Gatte wisse, was weiter mit seiner Familie geschehen sei. So habe zum Beispiel die Tochter Irmgard einen Araber geheiratet, was der Vater mit aller Macht und viel List hatte vermeiden wollen. Hier in diesem Hotel habe sich seinerzeit der Kronprinz von Abu Dhabi in ihre dreizehnjährige Tochter verliebt. Wo immer ihre Familie sich niedergelassen habe, er habe sich vis-à-vis gesetzt. Wie listig ihr Seliger die Tochter versteckt habe, der Prinz sei wie ein Schatten dem Kind gefolgt. Zuletzt hatten sie das Hotel räumen müssen, das der Scheich mit seiner Suite und seinem Harem sowieso zu Dreiviertel besetzt hatte. »Diese fremden Prinzen und die Asylanten sind überall.« Der junge Prinz habe übrigens nichts anders getan, als die Tochter stumm und still mit glutvollen Augen angesehen – stumm und still und glühend vor Liebe. Das habe auch dem väterlichen Scheich mißfallen, denn dort in Arabien habe man viele Frauen, nur eine zu haben sei eine Schande. Frau Maier seufzte. Alle betrachteten mit Mitgefühl das Haus solch betrüblicher Erinnerungen.
Doch Frau Maier schreckte auf. Es hieß, sich beeilen, denn ein Anruf von den Kindern aus Mallorca oder Düsseldorf stand ins Haus. Die Ausflugsgesellschaft fiel in Laufschritt. Frau Maier keuchte: »Zuletzt ist sie dennoch einem Scheich auf den Leim gegangen, unsere Tochter, einem arabischen Studenten, der in einem unserer vielen Häuser wohnte. Allzuviel ist ungesund. Da war mein Mann schon tot, gottlob.« Man hastete zur Schwarzen Madonna. Es blieb keine Zeit, um von kompetenter Seite zu erfahren, ob die Toten hören und sehen, was wir hören und sehen.
Am Abend hatte Frau Maier zu einem Glas Wein eingeladen. »Man soll Wohltaten nicht ablehnen«, sagte Herr Kapdebo und als Frau Maier fragte, was es sein dürfte, zuvorkommend: »Das Beste vom Besten.«
Als man sich am Abend in der Laube nahe der Einfahrt traf – Frau Maier hatte Windlichter aufstellen lassen –, merkten alle, daß Frau Maier die Wünsche ernstgenommen hatte. Der teuerste Wein wurde kredenzt, französischer Rotwein, ein erlesener Jahrgang.
Die Directrice befehligte den Anmarsch des kostbaren Tropfens. Ihr blondgelockter Sohn, der keinen Blick von seiner Mutter im modischen Dirndlkleid ließ, trug den Eiskübel herbei. Bloß einmal hatte er den Bischof angesehen, gleich zu Anfang, im Eßsaal beim Mittagstisch, und hatte darauf zu seiner Mutter gesagt: »Ist das ein vornehmer Bischof? Das ist höchstens ein vornehmer Herr!«
Der Kellner Manfred entkorkte die schlanke Flasche, ließ die Gastgeberin kosten mit dem Vermerk, sofort die Flasche tauschen zu wollen, sollte etwas zu beanstanden sein. Obschon es nicht Champagner war, hatte er behutsam eine Serviette um die Flasche geschlungen. Der Wein mundete der Dame des Festes, und so waren alle gehalten, ihn zu trinken. Es sei dieser Tage ein großer Tag in ihrem Leben, sagte Frau Maier unbestimmt, so daß die Kinder anrufen müßten, daher habe man sich nicht allzuweit vom Hotel entfernt.
Als man ihr zutrinken wollte, ohne zu fragen, welcher und was für ein Tag das sein könnte, rauschte es in den Büschen. Pfarrer Bledamm drängte sich in die Runde. Dank seines Rechtes als Kurpfarrer, überall dabeisein zu dürfen, stützte er die Fäuste auf den Tisch und schnarrte: »Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!, Psalm 133. 1.« Einige Schritte weiter wartete Frau Ulrike und glühte purpurn in der Dämmerung. Die erhobenen Becher fuhren zurück, und alle wendeten zuvorkommend das Haupt dem Sprecher zu. Am Sonntag sei Kirche, erinnerte der Pfarrer, und nachdem niemand sich regte, ergänzte er: »Wie gewöhnlich um halb zehn!« Ob die Predigt am vergangenen Sonntag gut angekommen sei; bei so zusammengewürfeltem Publikum wäre es schwer, jedem einen Happen zuzuwerfen. Aber er bemühe sich. Die ganze Woche gehe er mit der Predigt schwanger! Man tue, was man kann.
»Und was man nicht kann«, sagte Frau Maria Kapdebo leise, wie das ihrer Natur entsprach. »Wie bitte«, schnupperte der Pfarrer. Doch niemand wiederholte das kaum Gehörte. Die Lieder seien kundig ausgewählt worden, sagte Herr Maria Kapdebo. Jeder Gottesdienst sei an sich erbaulich, meinte der Bischof. Frau Thorwächter sagte, sie könne sich nicht äußern; als Schauspielerin sei sie an keine Konfession gebunden, vielmehr trage sie ihren Herrgott im Herzen. »Gerade Sie«, rügte der Pfarrer, »wo Sie so krank sind!« In dieser Manier erfuhren die Freunde in fröhlicher Runde, daß die makellose Tragödin krank war.
»Und Sie, Frau Maier?« ließ der Kurpfarrer nicht locker. Frau Maier murmelte, sie gehe in Genf zu oft zur Kirche, so oft, daß bereits die Polizei Anstoß nehme, hier müsse sie sich erholen. Nachdem nichts weiter geschah, außer daß in den gefüllten Bechern der Wein perlte, verabschiedete sich der Pfarrer: »Es möge trotzdem ein gottgefälliger Abend werden, denn der Weingeist ist ein zweifelhafter Geist!« Er trollte sich.
Herr Bledamm hatte ihnen reinen Wein eingeschenkt. Bestürzt über die Eröffnung des Hotelseelsorgers und kleinlaut, weil keiner etwas geahnt hatte von der Hinfälligkeit einer so betörenden Wohlgestalt, der Frau Arabella, versteckten sich die Feiernden hinter ihren Bechern, sogen den edlen Duft ein. Sie trauten sich nicht zu fragen. Frau Arabella hielt den Kopf nicht gesenkt, vielmehr schaute sie jedem einzeln in die Augen. Bei soviel freimütiger Schönheit fanden alle zu der gedämpften Fröhlichkeit des Anfangs zurück und leerten die Becher.
Nach der Unterbrechung stieß man nach Siebenbürger Sitte an, das heißt, jeder beugte sich zum andern, ließ den Becher an den des Nachbarn klingen und wünschte etwas Gutes: Gesundheit oder Prosit oder auf gute Freundschaft. Gesundheit wünschte der Bischof allenthalben, Gesundheit und den Frieden der Seele seiner Nachbarin zur Rechten, Frau Arabella. Das goldene Bischofskreuz pendelte nach vorne, als er sich zu ihr beugte, mit feinem Klirren rührte es an ihren Becher. Doch schien er irdisch gestimmt, denn er steckte es in die Westentasche. Allein die goldene Kette blinkte nun im Licht der Kerzen.
Frau Maier wünschte: »Auf gute Freundschaft!«, und daß man sich noch in dieser Runde treffen sollte und tunlich hier auf Erden, wiewohl sie ein Jammertal sei. Die Dame blickte in ihr Leben, tempi passati. Sie sei das siebenundvierzigste Mal hier, ohne Unterbrechung Jahr für Jahr; anfangs sei sie allein gekommen, das erste Mal als Achtzehnjährige. Der Vater, ein renommierter Hotelier in Karlovy Vary, habe sie hergeschickt, gewissermaßen geschäftlich.