Wo die Häuser Hemden tragen


...oder wie eine ungewöhnliche Idee für das Dorf Ciocăneşti in der Bukowina zum Touristen­magneten wurde


Text: Nina May
Fotos: George Dumitriu

Haus
Energisch bindet mir Tanti Leontina den Wickel­rock um die Hose, stülpt eine trans­parente Stick­bluse über meinen Pulli und windet mir ein buntes Kopftuch ums Haar. „So, nun sieht es echt authen­tisch aus“, witzelt neben ihr Laurenţia und lässt ihr typisches, kehliges Lachen los. Bevor wir in die Kälte hinaus­gehen, reicht sie mir einen aufwändig be­stickten „Cojoc“ aus Lammfell.
Frauen in Trachten
Tanti Leontina und Laurentia beim Ankleiden der Autorin
Als echte Bukowiner Bäuerin stehe ich nun zusammen mit der 87-jährigen Museums­besizerin und der gutge­launten Kneipen­wirtin von Ciocăneşti - einem traditions­bewussten Dorf zwischen Vatra Dornei und Câmpulung Moldovenesc - in der glei­ßenden Sonne.
Hemd
Frauen in Trachten
Vor Tanti Leontinas Museum
Wir posieren vor der Balus­trade des schmucken kleinen Heimat­museums, in dem Tanti Leontina wohnt. Die Frauen kichern belustigt, die Kamera klickt. Dann führt uns Leontina Ţăran wieder in die gute Stube. An den Wänden prangen bestickte Tücher, Bilder und Wollweb­teppiche. Auf Bett und Tisch stapeln sich Hemden, Blusen und Deckchen aus feinster Häkel­spitze - alles in jahr­zehnte­langer Hand­arbeit liebevoll selbst ge­fertigt.
Faden
Schere
Hose
Faden
Kaufen kann man die Kost­barkeiten nicht, denn sie sind nahezu unbe­zahlbar! Zwei Jahre kann es dauern, bis ein besticktes Fest­tags­hemd mit Puff­ärmeln, kunst­vollem Kragen­zug und gefloch­tener Kordel fertig ist – zumindest wenn man nebenbei auch noch Haus und Hof zu versorgen hat, Walderd­beeren sammelt und Stein­pilze einkocht. Auch wenn Witwe Leontina seit vielen Jahren alleine lebt - sie langweilt sich keine Sekunde! Stolz präsentiert sie eine Pinnwand mit Photos von Besuchern aus aller Welt: Deutsch­land, Frank­reich, Spanien, Neusee­land und sogar Japan. Mond­gesichter mit exo­tischen Mandel­augen strahlen sie aus den bukowi­nischen Trachten an, mit denen sie ihre Gäste stets ein­kleidet. Auch wenn manche der Photos längst verblasst sind, kann sie zu jedem eine leb­hafte Geschichte erzählen.
„Bestickte“ Häuser
Haus
Haus
Haus
Das ungewöhn­liche Beispiel machte Schule – vielleicht, weil Leontinas kleiner Hof immer wieder prämiert wurde. Bald entbrannte ein regel­rechter Wett­streit: Wer hat das schönste Haus im Dorf? Irgend­wann blieben die ersten Durch­reisenden stehen.
Haus
Sie erklommen neugierig die Hügel des Streu­dorfes, um einen Blick und einen Klick auf die schönsten Höfe zu er­haschen. So hielt der Tourismus Einzug in Ciocăneşti. Heute gibt es etwa 15 tradi­tionelle Privat­pensionen in den Kategorien 1-3 Sterne. Bürger­meister Gheorghe Tomoiaga, der das Potenzial seines Dorfes schnell erfasst hatte, wacht mit strengem Blick darüber, dass protzige Villen und moderner Kitsch im Zaum gehalten werden. Wer hin­gegen behauptet, zu arm zu sein, um seine Fassade mit den tradi­tionellen Stuck­mustern zu ver­zieren, bekommt einen Sack Sand, Zement und Farbe geschenkt!
Haus
Doch Ciocăneşti hat mehr zu bieten als bunte Häuser in sanfter Hügel­landschaft im Einzugs­bereich des Rodna National­parks. Während Laurenţia Fisch­zacusca und Chişleag mit Himbeer­marmelade auftischt – ein Gemisch aus vergorener Kuh- und Schafs­milch, das im Holz­bottich aufbe­wahrt und mit einer Schicht aus Schweine­fett zu­gedeckt ein Jahr lang hält - erzählt sie stolz von den lokalen Bräuchen: Floß­fahrten auf der goldenen Bistritz, das kunst­volle Bemalen ausge­blasener Eier, die alte Huf­schmiede. Zu den vielen Trachten­festen kommt das Dorf wie eine riesige, fröhliche Familie im Freien zusammen. Im Frühling ziehen Oster­umzüge Besucher aus dem ganzen Lande an, während im Sommer vor allem das Forellen­fest mit Angel- und Kochwett­bewerben, River Rafting, Floß­fahrten und weiteren Attrak­tionen lockt.
Eier­schmuck – ein Brauch aus vorchrist­licher Zeit
Ei
Ei
Ei
Neben dem liebens­werten Mini­museum von Leon­tina Ţăran besuchen wir das „Nationale Eier­museum“, wo Mari­lena Niculiţa fach­kundig die regional­typischen Muster erklärt.
Ostereier
Eiermuseum: Marilena erklärt Dekor
In Ciocăneşti domi­nieren geome­trische Formen auf schwarzem Grund, in Radauţi zoo­morphe Darstel­lungen, während das Dorna Tal für Blumen­motive bekannt ist. 260 Stile gibt es auf natio­naler Ebene. Die Eier werden mit feinen Pinseln bemalt oder mit­hilfe eines Spezial­instrumentes, der „chişiţa“, mit hauch­zarten Wachs­linien verziert. Marilenas Töch­terchen Luminiţa demons­triert den Be­suchern nach der Schule gerne die Technik – im Winter gibt es aller­dings keine Vor­führungen, denn bei unter 20 Grad geht das Wachs keine Ver­bindung mit der Eier­schale ein. Beson­derer Beliebt­heit er­freuen sich die Sommer­ferien­kurse der lokalen Eier­malschule für Kinder aus ganz Rumänien, die von der Direk­torin der Dorf­schule ins Leben gerufen wurden.
Ei
Kerze
Ei
Auf die Frage nach dem Ur­sprung des Eier­färbens hört man oft, dass rote Eier die blut­befleckten Steine nach der Stei­nigung von Jesus symbo­lisieren. Tat­sächlich fanden sich jedoch Hinweise, dass das rituelle Bemalen von Eiern in der Region bereits in vor­christ­licher Zeit ge­pflegt wurde. In vielen Kulturen galt das Ei als Symbol für Frucht­barkeit, Wieder­geburt und damit auch für den Früh­ling. Selbst im Alten Ägypten wurden zur Auf­erstehungs­feier des Toten­gottes Osiris Eier bunt gefärbt.
Die Tradition der Flößer
Band
Band
Des Weiteren stellt das Museum Gegen­stände aus dem dörf­lichen Alltag zur Schau. Im unteren Saal be­eindruckt ein fast zwei Meter langer, aus Weiden­ruten gefloch­tener Fisch, der beim jähr­lichen Forellen­fest zum Einsatz kommt. Außerdem be­wundern wir Relikte aus der Tätig­keit der Flößer, die hier seit über hundert Jahren Tradi­tion hat. Der Trans­port des Holzes erfolgte auf der Bistritz entlang der Strecke Prislop – Baraj Barjalea – Șesuri – Batca - Iazul bis Vatra Dornei. An diesen Orten sammelten sich die Flößer, um auf das Auf­stauen des jewei­ligen Flussab­schnittes zu warten, das zu streng fest­gelegten Uhr­zeiten statt­fand. Dann starteten alle mit­einander, bis sie sich an der nächsten Schleuse wieder trafen. Ein Floß mit mehreren aneinander­gehängten Platt­formen aus 20-30 Stämmen verlangt der Steuerung höchstes Geschick ab. Damit es nicht in den Kurven des Flusses hängen­blieb oder an Land geschleudert wurde, hatte man das Ufer mit glatten Steinen befestigt. Zu Volks­festen werden heute für Touristen und abenteuer­lustige Einwohner Fahrten auf dem 6 km langen Fluss­abschnitt zwischen Botoș und Ciocăneşti ange­boten.
Dorf der tradi­tionellen Feste
Haus
Haus
Haus
Wer Gästen mehr bieten will als nur den Anblick schöner Häuser, muss sich das ganze Jahr über etwas ausdenken. Was bietet sich da besser an, als die Kombi­nation zwischen Feiern, Freizeit­spaß und der Prä­sentation lokaler Tradi­tionen? Neben dem Forellen­fest am 15. August ist vor allem das „Festival National al Oualor incondeiate“ im März ein Magnet für Besucher aus dem ganzen Land. Neben Umzügen mit dem berühmten Riesenei aus Beton werden stets neue, originelle Über­raschungen präsentiert – wie etwa das soge­nannte Fastenei („Oul de Post“), ein überlebens­großes, „kalorien­loses“ Hohl­modell aus 1000 ausgeblasenen Hühnereiern, von denen einige Überraschungen enthielten, die man bei diversen Wett­bewerben gewinnen konnte. Stolzer Haupt­preis: goldene Eheringe für ein junges Braut­paar! Feier­lich begangen werden auch der Alm Auf- und Abtrieb der Kühe im Mai und im September, mit dem tradi­tionellen Milch-Messen, sowie das Stadel­fest im August („Serbare Stânii Turistice“), der Wirte­ball im November („Balul Gospodarilor“) und natürlich das Weihnachts­fest („Colinzi de Crăciun“).
Kerze
Ausgebaut werden sollen in Zukunft die Wett­bewerbe im Gold­waschen in der soge­nannten „goldenen Bistritz“, denn seit dem 15. Jahr­hundert ist bekannt, dass kleinere Vor­kommen des Edel­metalls im Rodna National­park dazu führen, dass immer wieder goldene Partikel im Sand des Fluss­betts angeschwemmt werden. Die Geschichte wurde oft un­gläubig als Legende abgetan, doch EU-Experten bestä­tigten jüngst die Gold­vorkommen, deren kommer­zieller Abbau jedoch nicht lohnt. Doch als Freizeit­spaß lässt sich das Phäno­men nutzen, meint Marilena Niculiţa. Auch die Tradi­tion der Eisen­schmiede beruht auf lokalen Erz­vorkommen. Bereits zur Zeit Stefans des Großen galt Ciocăneşti als bedeu­tender Ort für die Her­stellung und Reparatur von Waffen. Ob daher wohl der Name kommt – von ciocan, dem (Schmiede)hammer?
Landschaft zwischen Ciocăneşti und Maramuresch
Vor der Weiter­fahrt über den Prislop Pass streifen wir durch das schmucke Streudorf, das wie ein riesiges Freiluft­museum anmutet. Im strah­lenden Sonnen­schein stehen die Häuser wie in frisch gestärkten Sonntags­hemden vor uns. Die Dörfler grüßen sichtlich stolz - doch haben sie nicht manchmal das Gefühl, ein wenig in der Vergangen­heit zu leben? Marilena Niculiţa schüttelt vehement den Kopf. Selbst die Kinder über­trumpfen sich begeistert in tradi­tionellen Hand­arbeiten, im Doina-Singen und Hora-Tanzen, freut sich die junge Mutter. „Luminiţa gewinnt einen Eiermal­wettbewerb nach dem anderen, und Laura Maria wurde im Sommer zu einem Gesangs­wettbewerb nach Frank­reich einge­laden“, lacht sie und fügt hinzu: „Durch meine traditions­bewussten Töchter reise ich im ganzen Land herum – und sogar ins Aus­land!“ Die Aus­länder aber kommen gerne nach Ciocăneşti – nicht zuletzt Dank Tanti Leontina, der kleinen alten Bauers­frau mit der großen Idee, mit der die Erfolgs­geschichte des Dorfes begann…
Komm mit Buch
Aus “Komm mit durch Rumänien“, ADZ-Verlag, Bukarest 2013
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