Eine nachdenkliche Adventsgeschichte über Gut und Böse
Fotos: George Dumitriu Text: Nina May
Vorgeschichte
Im Halbdunkel sitzen wir uns gegenüber. Das Reportofon liegt auf dem runden Tisch, ringsum schlagen abwechselnd Standuhr und Wanduhr, als wollten sie miteinander kommunizieren. Für mich gibt es keine Zeit mehr. Die Stunden verschmelzen zu einer einzigen Sekunde, in der ich in ein fremdes Leben eintauche, in eine andere Welt. Und doch entdecke ich dort unendlich viel Vertrautes. „Liebe ist die Kraft, eine Brücke über den Abgrund des Getrennten an das Ufer des Fremdartigen zu schlagen“, sagt der weißhaarige ältere Herr mit fester Stimme. Das Tor auf der Brücke steht offen. Ich gehe hindurch und betrete das Leben von - Eginald Schlattner.
Interview Nina May mit Eginald Schlattner im Pfarrhaus von Rosia/ RothbergPfarrhaus in Roşia/Rothberg
Für mich ist er nicht nur der Schriftsteller mit Lesereisen von Lissabon bis Istanbul, Polen bis Italien, nicht nur der evangelische Pfarrer, der in Rothberg-Roşia jeden Sonntag demonstrativ vor leergebeteten Bänken predigt - einem ehemals deutschen Ort in der Nähe von Sibiu, den die Sachsen im Massenexodus nach dem Fall des Kommunistenregimes verließen und in dem sich seither vor allem die Roma Minderheit ausgebreitet hat. Und schon gar nicht, was verbitterte Feinde behaupten, die ihn mit Hass verfolgen: der Verräter.
Bilder aus Dorf Roşia/Rothberg
Hier möchte ich eine andere, vielleicht weniger bekannte Facette aus seinem Leben erzählen: die Geschichte vom Gefängnispfarrer. Kein Pfarrer, der mit erhobenem Zeigefinger und moralischen Sprüchen aus der Bibel aufwartet, sondern einer, der denjenigen Liebe entgegenbringt, die von der Gesellschaft ausgestossen, stigmatisiert oder einfach nur vergessen worden sind. Menschen, die Schuld auf sich geladen haben - doch es sind immer noch Menschen. Schuld ist schwer zu quantifizieren, das weiss Eginald Schlattner aus eigener Erfahrung. Was benennbar ist, ist das Leid, dass man anderen zugefügt hat. Für diejenigen, die unter ihm zu leiden hatten, betet er jeden Freitag. Doch vielleicht ist es gerade der tragische Teil seiner Geschichte, der ihn für seine heutige Lebensaufgabe qualifiziert...
Dramatische Lebenslehre
„Jetzt, am Ende meiner Biografie, ist es Zeit, auch einmal zu reden“, sagt der 77 jährige siebenbürger Sachse mit bewegter Miene: „Ich war kein Spitzel der Securitate!“ Er verweist auf den neuen Film von Hans Bergel. Der beschuldigt ihn unter anderem, seine bürgerliche Abstammung verraten zu haben, indem er Kommunist geworden sei, und dann den Kommunismus, indem er Pfarrer geworden sei. „Ein gehässiger Film“ sagt Schlattner traurig, „doch ich werde auch diesmal nicht an die Presse gehen“. Dann erzählt er mir sein bewegtes Leben...
Wir versetzen uns in das Jahr 1958. Als junger Hydrologiestudent wird er kurz vor seinem Ingenieursabschluss überraschend im Rektorat der Universität Klausenburg verhaftet. Zuerst denkt er an einen Irrtum. Doch nach drei verzweifelten Monaten Einzelhaft im Halbdunkel, ohne Ausgang, ohne Frischluft, ohne Kontakte, Verhöre über Verhöre, erkennt er: „dies ist die einzige Realität, die mir auf unabsehbare Zeit zur Verfügung steht“. Der junge Mann beschliesst, um sein seelisches Überleben zu kämpfen. Über 10.000 km legt er in der 7 Quadratmeter großen Zelle zurück, hin und her, von einer Wand zur anderen. Im Kopf löst er partielle Differentialgleichungen zweiten Grades, macht Erfindungen und erlangt eine geistige Luzidität, die er später nie wieder erreicht. Als er 1960 entlassen wird, kann er nicht mehr geradeaus gehen und seine Haut ist so empfindlich geworden, dass er selbst im Sommer Handschuhe trägt. Am schlimmsten aber sind die seelischen Wunden. Wie eine geballte Faust geht er durch sein neues, freies Leben. Voller Angst und unfähig, jemandem zu vertrauen, nicht einmal der eigenen Familie. Wenn seine Mutter Besuch bekommt, lobt er den Sozialismus, bis sich die Damen peinlich berührt zurückziehen. Er will nur eines: nie, nie wieder verhört werden! Gleichzeitig sagt er sich: „Wenn sie dich doch wieder verhaften, dieser Freiheit weinst du keine Träne nach!“
„Was ist Schuld?“ reflektiert Eginald Schlattner immer wieder nachdenklich. Nach vier Monaten Verhör und Zellenhaft hatte sich der junge Häftling nach langer Gegenwehr dazu durchgerungen, im ‚sächsischen Autorenprozess von Stalinstadt’ auszusagen. Ein Entschluss, für den er bis heute die Verantwortung übernimmt. „Es gibt keine Grenzsituation im Leben, wo nicht ein infinitesimaler Freiraum gegeben ist, der jedweder Entscheidung und Tat den Stempel der Verantwortlichkeit aufprägt“, sagt Schlattner. Von allen Zeugen war er der einzige, der nicht von zuhause, sondern direkt aus der Zelle zum Prozess gebracht wurde. Er selbst wurde dabei zu zwei Jahren Haft wegen Nichtanzeige von Hochverrat verurteilt. Für die Securitate zählte nicht, ob man ‚verraten’ hat, sondern nur, wie lange man es ausgehalten hat, nicht zu ‚verraten’.
Weg in eine neue Zukunft
Sein Leben schien zerstört. Statt Ingenieursstudium folgten nach der Entlassung Stigmatisierung und Ausschluss. Fliessbandarbeit in der Ziegelfabrik, 12 Stunden Nachtschicht, dann der Bau einer Bahnlinie in die Westkarpaten. Erst nach der großen Amnestie im Jahre 1964 endlich ein Lichtblick: Anstellung als technischer Zeichner, Nachholen des Ingenieursdiploms, Ehe, Familie, der Beginn eines bürgerlichen Lebens. Ausgerechnet da passierte etwas völlig Unerwartetes. Das Ereignis selbst wollte er nicht beschreiben, es sei so persönlich wie die Nacht mit einer schönen Frau. Es geschah, was er als den „Ruf Gottes“ bezeichnete: so hautnah und direkt, so ungestüm und unentziehbar, dass er alle bisherigen Pläne über den Haufen warf. „Warum jetzt, wo sich mein Leben langsam wieder ordnet?“ fragte er sich insgeheim. Warum nicht damals in der Gefängniszelle, als er so auf ein Zeichen gewartet hatte? Warum nicht in den Jahren danach, als er verloren durch ein ihm entglittenes Leben irrte? Er spürte, dass ihm nichts passieren würde, wenn er dem Ruf Gottes nicht folgte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass Gott nicht noch einmal rufen würde.
Darstellung des Herrgotts in der Kirche von Roşia/Rothberg
Also begann Eginald Schlattner im Alter von 40 Jahren Theologie zu studieren. Aus dem einstigen Gottesleugner, der mit Nietsche und Schopenhauer unterm Arm die Theologie ideologisch in die Luft sprengen wollte, war über Nacht ein gläubiger Mann geworden. Über die Dörfer wollte er laufen und voll ungestümer Freude ausrufen: Ich bin dem lebendigen Gott begegnet! Nach dem Studium folgte eine langjährige und erfüllende Tätigkeit als Pfarrer in Rothberg, die mit der Auswanderung der letzten Sachsen 1990 ein jähes Ende nahm.
ev. Kirche in Roşia/Rothberg
Plötzlich blieb er vor leeren Kirchenbänken zurück. Es war ein Schock! „Ich weiss nie genau, was der Herrgott will“, bekennt Eginald Schlattner, „aber ich wusste immer genau, was er nicht will. Wenn einer sagt: ‚Gott wollte, dass ich nach Deutschland auswandere und mein alter Vater bleibt hier, die Rumänen füttern ihn und die Zigeuner wischen ihm den Arsch, und bitte, lieber Herr Pfarrer, sehen Sie doch ab und zu nach ihm’, dann weiss ich: das ist nicht, was Gott wollte!“ Er selbst hätte 100 Gründe gehabt, zu gehen. Doch eine innere Stimme sagte: Halt aus! Halt durch! Geh nicht! Aus Verzweiflung an der Einsamkeit begann er zu schreiben. Seine autobiografischen Romane (*) eroberten viele Leserherzen der Welt. War es das, was der Himmel von ihm wollte?
(*) Titel: Der geköpfte Hahn, Rote Handschuhe, Das Klavier im Nebel, alle im Paul Szolnay Verlag, Wien 1998, 2001, 2005.
Seit die Sachsen fort sind, bleiben die Kirchenbänke leer
Die endgültige Berufung
„Wir haben es mit einem Gott der Überraschungen zu tun“, sagt Schlattner, und das Schicksal gibt ihm recht. Eines Tages flatterte ein Rundschreiben vom Bischof ins Haus. Ein Gefängnispfarrer wurde gesucht. Doch mit dem Milieu, dem er selbst so schmerzvoll entronnen war, wollte er nichts mehr zu tun haben. Dreimal ignorierte er das wiederholte Schreiben - dann meldete er sich spontan. An seinen ersten Besuch im Gefängnis von Aiud erinnert er sich noch heute. Zwanzig Sachsen und drei Frauen gehörten zu seinen ersten Schutzbefohlenen. Er gab ihnen die Hand, behandelte sie auf Augenhöhe. Er sagte ihnen: „Ich frage euch nicht nach der Straftat, denn nicht wegen eurer Vergangenheit bin ich hier, sondern wegen eurer Zukunft“. Sie rechneten es ihm hoch an. Viele von ihnen vertrauten sich ihm an. Er schloss sie nach und nach in sein Herz: Hanspeter, der seinen Bruder umgebracht hat. Ibi, 17, die mit ihrem Freund ein Bauernhaus angezündet hat - zwei alte Menschen sind darin qualvoll erstickt, doch sie spürt keine Schuld. Elisabeta, die mit ihren Töchtern zusammen den Mann erschlagen hat, der die Familie tödlich terrorisierte.Verbrannt, verscharrt. Es gab keine andere Lösung, sagte sie. Die Erleichterung sah man ihr an. Er kann das nicht gutheissen, schreibt er im Bericht an den Bischof, aber verstehen doch. Maria Elena: Sie soll ihre zwei Kinder umgebracht haben. Er hält sie für schuldlos. Vielleicht gelingt es, den Prozess neu aufzurollen? Zwei Menschen konnte er während seiner über 18-jährigen Amtszeit zur Gerechtigkeit verhelfen. Vielen hat er das Leben gerettet, in dem er darauf hinwies, dass sie selbstmordgefährdet waren.
„Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind nicht die Mauern des Gefängnisses“ sagt er seinen Schützlingen immer wieder. Und: „Habt Mut, das Gute in euch aufzuspüren!“
Anfangs hielt er „Zieharmonika-Gottesdienste“. Erst wurde gesungen, dann kamen die persönlichen Gespräche, dann schnell wieder singen, damit die Wache draußen weiss, der Gottesdienst ist noch nicht zu Ende. Heute lässt er in drei Sprachen das Vaterunser beten, dann widmet er sich ganz offen den Nöten seiner Schützlinge. Am Ende wird eine biblische Geschichte verlesen, in der sich die Häftlinge wiedererkennen sollen. Bewegend ist das Beispiel von Hanspeter, der nach dreimaligem Lesen der Geschichte von Kain und Abel immer noch unverständig dreinblickt. Dann auf einmal erhellt sich sein Gesicht: Das Kain-Zeichen ist kein Stigma für den Brudermörder. Es ist ein Zeichen von Gott zu seinem Schutz. Hanspeter erkennt: Obwohl er seinen Bruder umgebracht hat, wird er von Gott geliebt! Da bricht ein Bann im Inneren des jungen Häftlings. Er überschüttet den Pfarrer mit Fragen. Ob es denn Hoffnung gäbe, vielleicht einmal sogar zu heiraten, eine Familie zu gründen? Bei der anschließenden Beichte weinte der junge Mann: er bereute seine Tat!
„Ich kann diese Menschen in mein Herz schließen, weil ich nicht der Richter bin“ sagt Eginald Schlattner und fügt hinzu. „Die Straftat wird ja hier abgegolten. Wer abgesessen hat, ist ein unbeschriebenes Blatt, man müsste ihn danach behandeln wie vor der Tat“. Leider trifft dies nur selten zu. Niemand will einen entlassenen Häftling haben, nicht als Verwandten und nicht als Arbeitenden. Viele kommen zurück, denn im Gefängnis gibt es einen Platz zum Schlafen und Essen. Seit einigen Jahren existiert eine Anlaufstelle für entlassene Häftlinge, das ‚Gute Haus’ in Neppendorf bei Sibiu. Es gewährt entlassenen Häftlingen Unterkunft, unabhängig von Geschlecht, Sprache und Konfession. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber für viele die Rettung. Wenige schaffen den Sprung in ein neues Leben.
Ob ihn sein eigener Lebensweg in seiner Einstellung den Häftlingen gegenüber geprägt hat, frage ich, und der alte Herr geht erstmal nachdenklich in sich. Dann bekennt er mit leiser Stimme: „Ja. - Sonst hätte ich sie nicht als meine Schutzbefohlenen angenommen.“
Nachtrag im „Tätigkeitsbericht an das Hochlöbliche Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche des Augsburger Bekenntnisses in Rumänien, Hermannstadt“:
PERSÖNLICHES:
Weshalb ich diese Beauftragung noch wahrnehme, geboren 1933?
Weil ich der richtige Mann am rechten Ort bin.
Und weshalb ich nicht ausgewandert bin?
Weil ich weiss, dass Gott mich hier kennt und bei meinem Namen gerufen hat,