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Ein Brief vom 1. Dezember


von Michaela Nowotnick

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Ein Brief an die Freun­de, ge­schrie­ben am ers­ten De­zem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res, als ich als ein­zi­ger Mensch in ganz Ru­mä­nien ver­such­te, mei­ner Ar­beit nach­zu­ge­hen, kläg­lich da­ran schei­ter­te und dann doch noch ei­nen wun­der­ba­ren Tag hatte.
Berglandschaft
12:30 Uhr
Heute ist der 1. De­zem­ber, Na­tio­nal­fei­er­tag in Ru­mä­nien. Sie­ben­bür­gen wur­de 1918, oder auch im Tau­send­neun­hun­dert­acht­zeh­ner, wie man hier sagt, an das Alt­reich an­ge­schlos­sen. Das wird in Her­mann­stadt un­ter an­de­rem da­mit ge­feiert, dass nie­mand zur Ar­beit geht. Ich bin nun im Ar­chiv, ganz al­lein, an ei­nen klei­nen Öl­ra­dia­tor ge­lehnt, denn „für ei­ne Per­son wer­fen wir nicht die gan­ze Hei­zungs­an­la­ge an.“ Mein Pro­jekt dehnt sich mehr und mehr aus, Pa­pier­ber­ge über Pa­pier­ber­ge wol­len be­stie­gen und klas­si­fi­ziert wer­den. Zwi­schen Ba­na­nen­kar­tons und Ar­chiv­map­pen ein­ge­gra­ben fris­te ich aber den­noch ein recht zu­frie­de­nes Da­sein. So­eben ist der Strom aus­ge­fal­len. In der Hoff­nung, dass er gleich wie­der kommt, wid­me ich mich vo­rü­ber­ge­hend die­ser klei­nen La­ge­be­schrei­bung mei­ner ak­tu­el­len Si­tua­tion.
Stromleitungen
13:30 Uhr
Der Strom ist noch im­mer weg, Zeit, um sich Ge­dan­ken über die Ge­stal­tung des rest­li­chen Ta­ges zu ma­chen.
Am heutigen Abend, wenn die Pfor­ten mei­nes mo­men­ta­nen Ar­beits­plat­zes ge­schlos­sen wer­den, bin ich mit Freun­den ver­ab­re­det, denn, wie ein ru­mä­ni­sches Sprich­wort sagt: „So lan­ge es Schnaps gibt, muss der auch ge­trun­ken wer­den.“ Zur Not tun es na­tür­lich auch Bier oder Glüh­wein auf dem Weih­nachts­markt. Ja, Her­mann­stadt ist stol­zer Be­sit­zer ei­nes Weih­nachts­mark­tes nach deut­schem Vor­bild. Es gibt al­les, was man von ei­nem Weih­nachts­markt er­war­tet und so­gar noch mehr. So blinkt ein Stand mit Kir­chen­fan­ar­ti­keln: Ta­ber­na­kel, Kreu­ze, Hos­tien­tel­ler und ne­ben ro­tem Glüh­wein wird auch wei­ßer aus­ge­schenkt. Die Stadt selbst ist vol­ler klei­ner Lämp­chen in neon­weiß und neon­blau. Zu Net­zen ge­bün­delt span­nen sie sich über die Stra­ßen, an ei­nem rie­si­gen Weih­nachts­baum, der auf dem Gro­ßen Ring in ei­nem Gu­lli­loch auf­ge­stellt wur­de, ver­lei­hen sie der Stadt zwar kei­nen hei­me­li­gen Cha­rak­ter, Cha­rak­ter aber schon. Heu­te, am Tag des An­schal­tens der Weih­nachts­be­leuch­tung, ist nun ein Teil des Strom­net­zes aus­ge­fal­len. So sit­ze ich im Halb­dun­keln, kann zwar noch Kis­ten von Map­pen un­ter­schei­den, zur Ent­zif­fe­rung von Hand­schrif­ten reicht es aber nicht. Die von mir an ei­nen Haus­an­ge­stell­ten ge­rich­te­te Fra­ge, was ich denn nun tun kön­ne, be­ant­wor­tet er mir mit zwei Ker­zen, die mir in die Hand ge­drückt wer­den. Ich neh­me die Ker­zen mit in mei­nen Raum. Spä­ter fra­ge ich mich dann doch, ob Ar­chiv und of­fe­nes Feu­er ei­ne gu­te Kom­bi­na­tion sind. Man merkt: Ich bin auf dem bes­ten Weg, mich voll­ends hier ein­zu­le­ben. So su­che ich z.B. den Toi­let­ten­licht­schal­ter nicht mehr ne­ben der Tür, son­dern ir­gend­wo zwi­schen Du­sche und Klo­schüs­sel. Nur wenn der or­tho­do­xe Pries­ter mit­ten in der An­dacht völ­lig selbst­ver­ständ­lich an sein Handy geht und fünf Mi­nu­ten im Raum te­le­fo­niert, nur dann wun­de­re ich mich noch ein biss­chen. Al­ler­dings nicht über den Pries­ter, son­dern nur da­rü­ber, dass sich sonst nie­mand wun­dert.
Stromleitungen
15:00
Der Strom ist nicht zurückgekommen, die Kerzen habe ich mich nicht getraut anzumachen, da bleibt nur der Gang nach Hause.
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15:30
Wenn ich aus dem Küchen­fens­ter mei­ner Neu­bau­block­woh­nung se­he, fliegt der Blick über den al­ten Wal­nuss­baum, in dem sich die Krä­hen sam­meln, hin zur Feu­er­wehr­wa­che, die auf Grund ih­rer Un­or­ga­ni­sa­tion nie ein Feu­er wird lö­schen kön­nen, über den Zi­geu­ner­pa­last mit all sei­nen ble­chern blin­ken­den Türm­chen und Ver­zie­run­gen in die schnee­be­deck­ten Gip­fel der Kar­pa­ten. Dort oben hat es ge­schneit, jetzt färbt die un­ter­ge­hen­de Son­ne den ers­ten Schnee in ei­nen röt­li­chen Schein und Wol­ken­fet­zen zer­rei­ßen in den Gip­feln.
Stromleitungen
Es ist früh Winter ge­wor­den in die­sem Jahr. Am Sonn­tag wa­ren in der Son­ne noch 20 Grad und man muss­te be­fürch­ten, sich den letz­ten Son­nen­brand des Jah­res ein­zu­fan­gen, heu­te fiel die Tem­pe­ra­tur auf un­ter 8 Grad.
Stimmung kommt auf, wenn man die kal­te Jah­res­zeit fürs Fern­se­hen nutzt. So die or­tho­do­xe Va­rian­te von „Ro­ma­nia’s next Top-Mo­del“. Der Stu­dien­kol­le­ge ei­ner be­freun­de­ten Non­ne wur­de zum Pries­ter ge­weiht. So et­was dau­ert ei­nen gan­zen Tag lang und wird li­ve im Fern­se­hen über­tra­gen. Die Non­ne und ich la­gen quer über ih­rem Bett und ha­ben uns das Spek­ta­kel an­ge­se­hen. Da­bei konn­te man Pop­corn es­sen und sich pri­ma un­ter­hal­ten, was er­staun­li­cher­wei­se auch funk­tio­niert, wenn man nur be­dingt die Spra­che des An­de­ren be­herrscht.
Die größte Ent­de­ckung des dies­ma­li­gen Au­fent­halts war das im Ju­gend­stil er­rich­te­te Nep­tun­bad. In ei­nem Hin­ter­hof ge­le­gen bie­tet es ne­ben ei­nem Schwimm­be­cken und ei­nem Fit­ness­club auch ei­ne Sau­na. Aber nicht ein­fach nur ei­ne Sau­na. Har­sches Re­gi­ment emp­fing uns am Frau­en­ba­de­tag. Nackt hat man hier zu sein und zum Be­weis zog die Ba­de­meis­te­rin ih­ren Ba­de­man­tel aus. „Schlap­pis“ bräuch­te man, mein neu­es ru­mä­ni­sches Lieb­lings­wort. Ja, Ba­de­lat­schen hei­ßen tat­säch­lich „Şla­pii“. Das Glas der Fens­ter des Ba­des be­steht aus bun­ten Blu­men­or­na­men­ten, der Ru­he­raum ist durch him­mel­blau-wei­ße Holz­wän­de in Se­pa­rees ge­teilt. Die In­nen­aus­stat­tung ist of­fen­sicht­lich ori­gi­nal Ju­gend­stil, in­klu­si­ve der Email­le­schil­der, die auf un­ga­risch, deutsch und ru­mä­nisch auf or­dent­li­ches Du­schen usw. hin­wei­sen. Die Sau­na­an­la­ge selbst ist er­neu­ert wor­den. Man hat neu ge­fliest, d.h. neue Flie­sen auf die al­ten Flie­sen ge­legt. Die ver­schnör­kel­ten Ab­flüs­se zei­gen das ehe­ma­li­ge Bo­den­ni­veau an und las­sen die al­te Pracht er­ah­nen. Da­rü­ber hi­naus bie­ten sie vie­le Ge­le­gen­hei­ten, sich die Ze­hen zu bre­chen oder sich mal so rich­tig der Län­ge nach hin­zu­le­gen. Hei­ßes So­le­was­ser, ei­ne Dampf­sau­na und da­zu hat man vom Lie­ge­raum, der mit al­ten Kran­ken­haus­lie­gen be­stückt ist, ei­nen pracht­vol­len Blick in das Fit­ness­stu­dio, wo sich Mus­kel­prot­ze in Şla­pis er­ge­hen. Groß­ar­tig.
Stromleitungen
Manchmal fehlt mir im doch recht klei­nen Her­mann­stadt ein we­nig die Ber­li­ner Ano­ny­mi­tät, ein­mal durch die Stra­ßen lau­fen, oh­ne stän­dig ein „Grüß Gott“, ein „Ser­vus“ oder ein „Bu­ne Zi­ua“ nach al­len Sei­ten aus­zu­sto­ßen, ein Bier im Park trin­ken kön­nen, oh­ne ver­schämt die Bier­büch­se wäh­rend des „Grüß Gott“ hin­ter dem Rü­cken ver­schwin­den zu las­sen. An­de­rer­seits gibt es na­tür­lich auch ganz of­fen­sicht­li­che Vor­tei­le: Ich fin­de im­mer je­man­den, der mich um­ge­hend von der Ar­beit ab­lenkt, wenn ir­gend­wo was los ist, ha­be ich das bin­nen zwei Stun­den er­fah­ren und soll­te ich im Su­per­markt mein Geld ver­ges­sen ha­ben, ist ga­ran­tiert je­mand da, der mir wel­ches leiht.
Und auch sonst kann man die al­ten Sach­sen hier sehr lieb ha­ben, vor al­lem ih­rem di­rek­ten Charme, dem man nur schwer ent­flie­hen kann.
Die über 80jährige Frau Fröh­lich, bei der ich Schnaps kau­fe, hä­kel­te Ba­by­schu­he. Mir ei­nen sol­chen Schuh zei­gend sag­te sie leicht vor­wurfs­voll: „Wenn Sie sich be­ei­len, mach ich Ih­nen auch noch wel­che. Wenn Sie so wei­ter­ma­chen bin ich bis da­hin tot.“ Was soll man...
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17:30
Die Sonne ist untergegangen, gleich ge­he ich „in die Stadt“. Der Glüh­wein, ob rot, ob weiß, war­tet, an­schlie­ßend ein Bier im Ge­wöl­be­kel­ler. Ein al­ter un­ga­ri­scher und na­he­zu hals­lo­ser Pia­nist wird am Flü­gel sit­zen. Ich weiß jetzt schon, was er spie­len wird, ich weiß, wer auch dort sein wird. Und ir­gend­wie freue ich mich da­rauf.
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Bis bald
Eure Michaela
Weihnachtlich geschmückte Stadt
Fotos: Hans-Ulrich Schwerendt und Markus Gärtner
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