Mein Nachbar, der König
von Eginald Schlattner
Bei dem Textauszug handelt es sich um den Anfang der Erzählung Mein Nachbar, der König. Eginald Schlattner schildert hier humorvoll ein österreichisches Kurhotel, dessen Betrieb durch die Ankunft eines Autos mit dem Kennzeichen "RO" nachhaltig erschüttert wird. Drei Personen steigen aus ihm aus. Sie kommen aus Rumänien, dem Land, in dem der Nachbar einer Kurbesucherin einmal König war.
Die Erzählung "Mein Nachbar, der König" erschien zusammen mit weiteren frühen Texten des Autors 2012 im Schiller Verlag Hermannstadt/Bonn.
Im Vorlass Eginald Schlattners entdeckt hatte sie Michaela Nowotnick, welche auch die Herausgeberin des Bandes ist.
Die Ankunft der Gäste erregte nur mäßiges Aufsehen. Beim Mittagessen sah kaum jemand auf, als die drei Neuen von der Vorsteherin des Kurhauses zu Tisch geleitet wurden. Dafür streiften bewundernde Blicke ihre Erscheinung im stilisierten Dirndlkleid. Die Kurgäste tauschten Worte über ihre betörende Jugendlichkeit und den schönen Knaben von etwa zehn Jahren, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Zu Recht ließ sie sich Directrice nennen. Obschon ein kirchliches Erholungsheim, Die Schwarze Madonna, hatte das Haus den anerkannten Rang eines Drei-Sterne-Hotels.
Eingeweihten, die vierzig Mal oder öfter in Badgastein zur Kur geweilt hatten, war aufgefallen, daß sich die Leiterin des Hauses in eigener Person bemüht hatte, den zwei Herren und der Dame die Plätze anzuweisen, und daß sie ihr strahlendstes Lächeln aufgesetzt hatte.
Die Ankömmlinge waren zu einem Tisch komplimentiert worden, der in der Mitte des Raumes stand und größer war als die übrigen. Üblicherweise trug er eine Vase mit Alpenflora und blieb unbesetzt. Daß es Herrschaften waren – gewiß, wer war es hier nicht! –, erkannte man auf den ersten Blick. Denn während die anderen Kurgäste sich leger gaben, ganz Urlaub und angepaßt an die tropische Hitze, die aus der Sahara über die Alpen geschwappt war – sogar der Kurpfarrer lief in kurzen Hosen herum –, waren die beiden Herren im Anzug, und die Dame trug ein knöchellanges Kleid. Trog der Schein? Am besten, man sieht Fremden auf die Finger! Es kam manches zum Vorschein: Beim Essen entfalteten die Herren die Serviette in voller Pracht und steckten sie sich hinter die Binde – man erinnerte sich an die Großväter in der guten alten Zeit. Und wie sie mit Messer und Gabel hantierten! Nach allen Regeln der Kunst und strikt nach dem guten Ton. Zum Beispiel zerkleinerten sie das Hackfleisch nicht zusätzlich mit dem Messer. Die Gabel beluden sie keineswegs wie eine Schaufel, sondern auf den gebogenen Rücken räumten sie einiges wenige Bekömmliche. Und mit dem Fischmesser strichen sie nicht Butter und Jam auf den Toast, sondern rückten damit dem Fisch zu Leibe. Aus guter Kinderstube stammten sie – daran war nicht zu zweifeln. Und daß sie nach dem Essen beteten, fiel auf, wo es den anderen Gästen doch genügte, daß der Kurpfarrer zu Anfang der Mahlzeit laut gebetet hatte, ob sie es wünschten oder nicht. Doch woher die drei neuen Gäste kamen und wer sie waren, blieb ungewiß. Ein jeder spürte: Es sind Fremdlinge, Zugereiste von sehr anderswo. Woran nichts änderte, daß sie untereinander hochdeutsch sprachen. Wer spricht schon hochdeutsch in deutschen Landen?
Bei Tisch saß an der einen Längsseite der eine Herr, stets im dunklen Anzug und mit einer dünnen goldenen Kette um den Hals, deren Ende im Innern des Jacketts verschwand. Ihm gegenüber das Paar – die Dame und der Herr. In Bälde würde sich der Schleier über dem Geheimnis lüften. Denn zu den ungewöhnlichen Nuancen des Hauses gehörte, daß beim Eingang eine Schautafel mit den Zimmernummern ausgehängt war. Unter jeder Zimmernummer öffnete sich ein Fensterchen, darin ein Karte steckte mit den Angaben zur Person, zum Namen, Titel, Wohnort und zum Herkunftsland.
Daß das hier so gehandhabt wurde, wunderte manchen, doch hatte es seinen tieferen Sinn. Wohl war die Schwarze Madonna ein Kurhaus, das sich sehen lassen konnte auf seiner Bergeshöhe, mit eigenen Thermalbädern im Kellergeschoß und einer hauseigenen Masseuse. Dazu der Ruhm, daß es der unglückseligen Kaiserin Elisabeth einmal als Refugium gedient hatte. Doch war es gleichzeitig ein kirchliches Erholungsheim, als solches angelegt auf erbauliche Gemeinsamkeit. Darum sollte jeder das mindestens vom anderen wissen, wiewohl es in eines jedes Belieben stand, sich der Hausgemeinde anzuschließen oder sich ihr zu versagen.
Der Kurpfarrer dagegen betrachtete es als Hausaufgabe, sich auf jeden Gast zu stürzen, ihn auf Herz und Nieren zu prüfen, ihn auszufragen, ihn einzuladen zu Gottesdienst, Morgeandacht, Abendbetrachtung und ihn geistlich und seelsorgerlich zu bemuttern mit Worten wie: »Ich bin da, um Sie evangelisch zu betreuen!« Tatkräftig unterstützt wurde er von seiner Frau. Sie hieß Ulrike und war Großmutter, was man wußte. Und vieles andere noch, zum Beispiel war sie geboren als Tochter eines Missionars im Schatten der Pyramiden. Vor Eifer und Neugier glühte sie bisweilen purpurn, so auch jetzt. Doch glühte sie vorläufig umsonst, denn leer blieben die Fensterchen unter den Zimmernummern der Neulinge. Auf Mutmaßungen war man nun angewiesen.
Jedoch! Die Neunmalklugen wußten bereits alles: Arme Schlucker sind es – seht euch den klapprigen Mercedes an, der ist zwanzig Jahre alt. Und: Aus dem fernen Osten kommen sie, dort zieht man sich so vorsintflutlich an! Dunkler Zweireiher! Das ist bei uns nicht einmal beim Begräbnis Mode. Und immer sitzen sie zusammen, typisch rußisch, aber sie singen nie.
Die Übergescheiten wußten es besser: Aus Afrika kommen sie, aus Rhodesien, seht euch das Kennzeichen auf dem Auto an, RO. Der alte Mercedes? Reiche Snobs vom schwarzen Erdteil. Es soll dort auch Weiße geben. Steinreich seien sie gewiß. Denn nicht von der Hand zu weisen war: Sie besetzten nicht nur den besten Tisch, sondern auch die besten Zimmer im ersten Stock. Der Herr im dunklen Jackettanzug hatte das einzige Appartement bezogen, dem ein geräumiger Balkon vorgelagert war. Es bestand aus zwei ehemaligen Einzelzimmern und hatte somit zwei Toiletten. Die Begleiter belegten rechts und links die Eckzimmer mit kompletter Badeeinrichtung – nicht bloß Duschkabine, sondern mit Badewanne – und je einer Loggia mit Aussicht auf Berg und Tal zugleich. Wer sie waren, wußte nur der Piccolo. Er hatte die Serviettenringe mit Titel und Namen beschriftet. Doch den fragte keiner.
Endlich waren die Kärtchen mit den Personalien der Neuen ausgesteckt worden und jeder hatte es geahnt, ja gewußt, was er dort las. Wiewohl was dort zu lesen war, neue Rätsel aufgab. Die Verzögerung hatte sich ergeben, weil es im Empfangsbüro Schwierigkeiten bereitete, das Anmeldeformular für den einen, den allein sitzenden Herrn, auszufüllen. Man zog seinen Begleiter zu Rate, gestand etwas betroffen, daß man so einen Paß noch nie in Händen gehabt hatte. Man wunderte sich zu Recht. Der schwarze Diplomatenpaß, Paşaport Diplomatic, enthielt bloß zwei Hinweise zur Person: den Namen und das Foto. Sonst nichts, rein gar nichts.
Es fragte das hübsche und sanfte Mädchen hinter dem Pult beunruhigt: »Sind der Herr nie geboren und nirgendwo zu Hause? Kein Vater, keine Mutter! Und die Augenfarbe? Und die Körperlänge? Überhaupt keine Merkmale? Ein Mensch ohne Eigenschaften ...« Doch schließlich klärte sich einiges: Neben Hinz aus Dänemark und Kunz aus Schottland, neben Deutschen, Italienern und Österreichern, vor allem neben alleinstehenden Damen, mal Müller, mal Maier, las man auf der Tafel bei Zimmer 104: Maria Kapdebo, Solistin, so viel und Schluß. Und drei Nummern weiter, bei 107: Maria Kapdebo, Privatier, so viel. Dazwischen waren zwei Fensterchen besetzt. Unter der Nummer 106, das war das Schlafzimmer: D. Dr. Hieronymus Augustin Kosma, und unter der Nummer 105, dahinter verbarg sich der Salon oder das Arbeitszimmer: Erzbischof von Siebenbürgen. Ähnlich hatte es der Piccolo auf die silbernen Ringe für die Mundtücher geschrieben: Erz-Bischhoff Kosma, Frau Maria Kapdebo und Herr Maria Kapdebo.
Beide heißen Maria? fragte man sich. Der eine ist doch ein Mann! Der Bewanderte antwortete vorwurfsvoll: Maria ist auch ein Männername in jenen fernen Ländern. Der Kunstbeflissene ergänzte: Und bei uns ebenso! Denken Sie an unsern Rainer Maria Rilke oder an Klaus Maria Brandauer. Als Soldaten rief man sie spöttisch: Mizrl! Wie das klingt: Mizrl, stillgestanden, Vergatterung!
Und Siebenbürgen? Der eine triumphierte: Bitteschön, hab ich es nicht gesagt, Sibirien. Dagegen befand der andere: Keineswegs, das hat mit dem Siebengebirge zu tun, vielleicht gibt es so was auch in Rhodesien.
Der Kurpfarrer waltete seines Amtes, stürzte an ihren Tisch, stellte sich vor, fragte nach dem werten Befinden und den geistlichen Wünschen und mußte erfahren, daß die drei nichts zu sagen hatten außer: Danke der Nachfrage! Und daß sie keinerlei Wünsche hegten, weder irdische noch geistliche.
»Wunschlos glücklich«, schnarrte der Pfarrer, »das ist ein seltener Glücksfall.« Mit seinem grauen Backenbart beugte er sich über den Tisch, stemmte die Fäuste auf und nannte mit Schneid seinen Namen: »Emil Bledamm.« Er war für dreiunddreißig Tage Kurpfarrer in der Schwarzen Madonna. Verpflichtet zu Sonntagsgottesdiensten um 9.30 Uhr in der Evangelischen Kirche, zu zwei ökumenischen Andachten und einem religiösen Vortrag pro Woche, hergeschickt von der Zentrale in Hannover mit dem Hinweis: »Kein leichtes Pflaster in Badgastein, wo Kaiser und Könige ihre erlauchten Glieder kuriert haben!« Kurpfarrer Bledamm lud die drei zu der Abendandacht im Leseraum ein und nachher zu einer Aussprache im intimeren Kreis bei einer Flasche Wein, damit man sich kennenlerne und näherkomme im Geiste des Hauses. Es seien Pfarrwitwen unter den Gästen, Religionsbeflissene und allerhand Suchende, begierig nach jenseitigen Neuigkeiten. Die drei Herrschaften aus fremden Zonen könnten gewiß zur Belebung der Unterhaltung beitragen.
Die Angesprochenen, die man bereits die drei Könige aus dem Morgenland nannte, später Dreigespann und manchmal Dreigestirn, hatten im Essen innegehalten, sogar das Besteck aus der Hand gelegt und zu allem mit dem Kopf genickt. Doch am Abend erschien im Lesesaal Herr Maria Kapdebo und eröffnete der Gruppe um den Kurpfarrer, daß seine Hochwürden, der Herr Erzbischof, sich zurückgezogen habe, infolgedessen die Einladung nicht wahrnehmen könne. Von der Frau Maria Kapdebo war nicht die Rede. Herr Maria entfernte sich auf Zehenspitzen.
Man machte sich im Hause seine Gedanken. Was heißt: Seine Hochwürden haben sich zurückgezogen? In sein Appartement zum Schlafen, in sich selbst zur Meditation? Und womit beschäftigte sich der hohe Herr in seinen Zimmern? Das Stubenmädchen verriet, daß es schon zweimal die Scherben vom zerborstenen Lampenschirm zusammengefegt hatte. Er kasteit sich, meinten die einen, er vertreibt böse Geister, rätselten die andern, oder verjagt vielleicht die Wespen.
Es ergaben sich Fragen des Protokolls bei einem Kirchenfürsten. Die Kurärztin hatte allen dreien Schwimmen im Freien verschrieben, unten im Grottenbad. Das war gut und schön. Herr Maria Kapdebo fragte nach, ob man sich nicht absondern könne. Es fiel der Verwaltung ein, daß ein Nobelbad für moslemische Potentaten unbenützt sei, das sei gerade das Richtige für einen Kirchenfürsten aus dem Osten mit dem Status eines Diplomaten. Unbequem war, daß dort allein ein türkisches Klosett bereitstand, ohne Sitzmuschel – alle Becher füllt die Vorsehung nicht. Man hockte aus eigenem Vermögen über einem schwarzen Schlund, was hygienisch, aber anstrengend war; für jeden Fall war ein Haltegriff von Silber vorhanden.
Sonnenbäder könnten die Herrschaften nehmen in der Abteilung für freie Körperkultur, die durch einen Zaun vom Rest des Areals abgetrennt war. Der Eintritt sei sowieso derselbe, mit oder ohne Textilien.
Voyeure, die sich mit dem Sessellift über den FKK-Strand des Grottenbades hin- und herschaukeln ließen, mußten enttäuscht ihre Gläser wegstecken. Die Nackten waren geflohen. Die einzige Sensation war, bei manierlicher Badebekleidung, ein massives goldenes Kreuz an einer goldenen Kette, das dem einen Mann über der Brust baumelte. Mehr war nicht zu sehen.
Erfreulich war, daß manchmal eine Erklärung aus der abgeschirmten Region der Fremdlinge herbeisickerte. Plötzlich wußten alle in der Schwarzen Madonna, was das mit dem Kreuz auf sich hatte: Ein Bischof ist ein Bischof immerdar und wo immer. Selbst im Freibad, wenn er sich sonnt, und des Nachts, wenn er schläft. Genau wie der König, der nie und nirgends aufhört, König zu sein; auf Bildern alter Meister könne man das überprüfen: Der König liegt sterbenskrank zu Bett, er hat ein Nachthemd an wie jeder gewöhnliche Sterbliche, und sein Bart wächst vor sich hin wie bei andern Kranken auch. Aber auf seinem Haupt trägt der bettlägerige König eine Krone, die der Maler ihm voller Respekt auf das Haupt gemalt hat.
Andere Fragen blieben offen, ließen mehrere Antworten zu. Zum Beispiel Frau Maria Kapdebo – was für ein Amt übte sie aus? Er, Herr Maria, war vielleicht der Privatsekretär, der Begleiter seiner Hochwürden oder ein Freund – aber sie?
Daß sie den Chauffeur spielte, das konnte man sehen, denn stets saß sie am Steuer des Mercedes. Ja, auch dort ergab sich eine seltsame Ordnung beim Fahren. Gegen alle europäischen Regeln, wo der Ranghöchste im Fond sitzt, meistens rechts, war das hier anders. Alle drei saßen vorne. Neben der Frau am Volant Herr Kapdebo und am Rande außen der Erzbischof. Der Fond blieb leer. So fuhren sie ins Kino nach Hofgastein.
Sie muß eine Meisterschwimmerin sein, eine ehemalige Siegerin oder so? Die aus dem Osten waren prima im Schwimmen! Als es den Ostblock noch gab.
»Und im Schachspiel«, meinte Frau Ulrike, die im Reigen frommer Damen gemächlich über die dampfende Fläche im Grottenbad dahintrieb – eine lila Pudelmütze auf dem Kopf.
Schwimmen, das beherrschte Frau Maria fabelhaft. Davon konnte sich jeder überzeugen, wenn die grazile Frau aus der Umhürdung der ehemals Nackten unter die gewöhnlichen Menschen trat und im Olympiabassin in vielen Stilarten ihre Runden zog: Brust und Kraul sowieso, aber auch Schmetterling und Delphin – allerliebst anzusehen.
Kaum hatte man sich an dieses gewöhnt, verblüffte sie einen von neuem. Im leeren Lesesaal setzte sie sich am Nachmittag ans Klavier und spielte das schwerste vom schweren: Variationen von Bach über Bach, die Goldberg-Variationen. Spielte, daß Kenner sich wunderten und Laien erschraken. War sie Konzertsolistin? Übte sie zum Vergnügen? Übte sie, um den Kirchenfürsten aufzuheitern, oder um die Geläufigkeit der Finger zu trainieren? Fast mußte das es sein, denn eines Abends wurde das Dreigestirn mitten in der Stadt auf der Brücke von finsteren Gesellen angefallen – gewiß Asylanten oder noch ärgeres. Die Bösewichte fielen ihnen in den Rücken, als sich die drei Nachtschwärmer beim Wasserfall solidarisch über die Balustrade beugten, um in der illuminierten Inschrift zu entziffern, wer von namhaften deutschen Dichtern diesen Wasserfall in seinem Werke verewigt hatte: Anastasius Grün, Hermann Hesse und Thomas Mann. Bei dem Überfall mußte Herr Maria keinen Finger rühren. Frau Maria erledigte solo die Anreifer mit ein paar Karateschlägen und virtuosen Tritten, so daß es an Akrobatik im Zirkus grenzte oder an Magie. Es blieb alles offen: Gesellschafterin, Chauffeur, Schwimmgenie, Klavierkünstlerin, Leibwächter – eindeutig war nichts und zweideutig ebenso wenig......
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