Land ohne Zäune


Text: Philipp Maußhardt
Fotos: Armin Smailovic

gemalter Stiefel
gemalte Kirchenburg
gemalter Stiefel
Einfach aufsitzen und losreiten. Eine verrückte Idee. Und doch war es genau das richtige, um die Angst vor einem Pferd zu verlieren. Ein Reiter-Report aus Siebenbürgen.
Pferd wird Wasser überschüttet
Das Glück überkam mich am vierten Tag. Navaro war erst in leichten Trab gefallen, dann in einen Galopp übergegangen. Ich klemmte mich mit meinen Unterschenkeln an seinen Bauch, hielt die Zügel fest und spürte die Schmerzen meiner blutig geriebenen Waden nicht mehr. „Yeahhh“, schrie ich vor Vergnügen als unsere drei Pferde die leicht ansteigende Wiese zum Waldrand hinauf galoppierten. Ein Pferd ohne Sattel, ein Land ohne Zäune, ein Mann ohne Ziel. So stelle ich mir bis heute die Freiheit vor.
gemalter Hut
Bis zu dieser Erfahrung hat es länger als ein halbes Menschenleben gebraucht. Ich war in den 60er und 70er Jahren mit Bonanza aufgewachsen. Die Sonntagnachmittage waren bei uns zuhause heilig. Wenn Little Joe, Hoss, Adam und Vater Ben Cartwright in unserer schwäbischen Neubausiedlung ihre Abenteuer erlebten, saß ich gebannt vor dem ersten Farbfernseher meiner Eltern. Die Titelmelodie ist unauslöschlich in meine Hirnhaut eingebrannt. Wann immer ich ein Pferd sehe, spielt es in meinem Kopf: dam-dada-dam, damdam-dada-dam, dam-dam-daah . . .
gemaltes Pferd

Dann kam die Zeit der Mopeds, später der Motorräder und Autos. Bonanza schien vergessen und Pferdestärken waren nur noch unter der Motorhaube wichtig. Vor ein paar Jahren fragte ich mich plötzlich, ob es normal sei, mit 150 PS über die Autobahn zu brettern und noch nie im Leben mit einem PS unter dem Hintern über eine Wiese geritten zu sein. Nein, das war nicht normal.

Das Land ohne Zäune war schnell gefunden. Von früheren Reisen kannte ich Siebenbürgen, ein weitläufiges Hügelland im rumänischen Karpatenbogen, in dem deutsche Siedler in den letzten achthundert Jahren gelebt hatten. In den Tälern liegen ihre alten Dörfer, oft von gewaltigen Kirchenburgen dominiert. Dazwischen: Felder, Weiden, Wälder und kaum geteerte Straßen, auf denen nur selten Autos fahren. Pferdefuhrwerke sind hier auch heute noch ein gängiges Verkehrsmittel. Dort wollte ich es probieren. Einfach aufsitzen und losreiten, ohne die lange Prozedur eines Reitkurses, bei dem man jahrelang in einer Koppel am Seil im Kreis herum geführt wird.

gemalter Hut
Der rumänische Besitzer des Reiterhofes in Kleinkopisch war erst ein wenig skeptisch. Doch dann willigte er ein, unter der Bedingung, dem Fotografen und mir einen Guide mitzugeben: Christian, unser Guide, war ein Pferde-Profi, der schon in vielen Reitställen Europas gearbeitet hatte. Er empfing uns in Vollmontur: Reiterhose in Leder, Cowboy-Hut und Stiefeletten. Er hatte drei Lipizzaner ausgesucht, nicht zu groß für Anfänger wie wir es waren und für die Strapazen in der Julisonne gut geeignet. Mein Pferd hieß Navaro, ein sechsjähriger Hengst, weiß mit dunklen Einsprengseln im Fell. Wir sattelten auf, warfen unsere Packtaschen über die Gäule, stellten die Länge der Steigbügel ein und ritten los den Berg hinauf.
gemaltes Pferd
Vom Pferd aus betrachtet sieht die Welt ganz anders aus. Wie auf einem Aussichtsturm sitzend verschwand die Zivilisation langsam unter uns, vor uns weitläufige Wiesen und oben auf dem Hügel der dunkelgrüne Wald. Ich bewegte mich im Rhythmus von Navaros Gang als säße ich auf einem Schaukelpferd. Christian hatte am Anfang nicht viel erklärt. Zügel nach rechts, Zügel nach links, die Steuerung funktionierte einwandfrei. Ich beobachtete ihn, wie er aufrecht im Sattel saß, nur mit den Ballen die Steigbügel berührte und sein Pferd mit den Fersen in einen Trab versetzte, sobald wir die Hochebene erreicht hatten. In einem Buchenwald hielten wir an, um die Bauchgurte nachzuziehen. Ein alter Mann mit einer großen Axt näherte sich uns, grüßte freundlich und wollte wissen: Woher? Wohin? Er wohnte in einem alten Bauwagen und wachte Tag und Nacht, dass niemand die gefällten Baumstämme stahl. Brennholz ist wertvoll. Wir plauderten ein wenig, dann saßen wir wieder auf.
Mann begrüßt Kinde neben einem Pferd
Wo immer wir in den kommenden Tagen Menschen begegneten, sie kamen von sich aus auf uns zu. Nicht wir sprachen sie an. Sie sprachen uns an. „Woher kommt ihr? Wohin reitet ihr? Was sind das für Pferde?“ Im ersten Dorf, das wir erreichten, öffneten Menschen die Fenster, als sie das Klappern der Hufe auf dem Asphalt hörten. Kinder rannten nebenher und winkten. Ein Porsche hätte weniger Aufsehen erregt als unsere kleine Reitertruppe.
gemalter Hut
gemaltes Pferd
gemalter Hut

Am Abend wollten wir in Reichesdorf sein, eine Strecke von immerhin knapp 50 Kilometern. Für einen ungeübten Reiter eine Ewigkeit. Den skeptischen Blick von Christian auf meine Jeans hatte ich am Morgen ignoriert. Jetzt wusste ich, was er meinte. Ohne schützendes Leder oder Chaps rieben sich meine Beine am Bauch des Pferdes schon nach Stunden wund.

Wir ritten über ausgedehnte Weiden, durch lichte Wälder und durch menschenleere Gegenden. Nur ab und zu begegnete uns ein Schafshirte, der im Schatten eines Baumes dösend die Augen öffnete und uns mit seinem Stock kurz grüßte.

Mann reitet durch ein Feld mit Kirchenburg im Hintergrund
„Wenn wir reiten“, sagte Christian während einer Pause an einer Wasserstelle, „leihen wir uns die Freiheit von den Pferden nur aus.“ Ein weiser Spruch, der mir noch eine Weile durch den Kopf ging. Später las ich, er sei von Helen Thomson, einer amerikanischen Psychologin. Mir taten nach fünf Stunden alle Knochen weh und ich legte mich zur Erholung auf die Wiese, alle Viere von mir streckend. Die Pferde banden in der Nähe einer Tränke im Schatten zweier Bäume an. Sie waren zuletzt unruhig geworden, weil die Wirkung des Anti-Fliegenmittels, mit dem wir sie eingeschmiert hatten, langsam nachließ. Navaro blutete an der Flanke und am Bauch von den vielen Stichen der Bremsen. Als ich ihm mit der Bürste etwas Linderung verschaffte und ihn mit Bremsensalbe einrieb, schien es mir fast, als würde er mich zum ersten Mal freundlich anschauen.
Mann steht im Dorf neben einem Pferd
Pferd und Mensch haben eine lange Beziehung. Tausende von Jahren waren sie fast unser einziges Fortbewegungsmittel zu Lande. Wer Kriege gewinnen wollte, brauchte ein Reiterheer. Wer reisen wollte, nahm die Pferdekutsche. Fast jeder Mensch konnte reiten, zumindest mit einem Pferd umgehen und noch immer steckt unsere Sprache voller Redewendungen, die sich auf diese Zeit beziehen. Einem die Frau ausspannen, die Zügel locker lassen, vor Freude wiehern, das Pferd von hinten aufzäumen, sich ins Zeug legen . . wir reden noch immer so, als säßen wir täglich im Sattel. „Auf, weiter“, trieb Christian uns an, „wir wollen noch vor Dunkelheit in Reichesdorf sein.“
gemalter Hut
Kurz vor der Ortschaft Schaal verlor Christians Pferd das Hufeisen am rechten Vorderfuß. Hufschmiede gibt es in Siebenbürgen noch in fast jedem Dorf, doch der von Schaal war an diesem Tag in die Stadt gefahren. „Bis nach Mortesdorf wird er es noch schaffen“, sagte Christian, dort wartete der Besitzer des Reiterhofes mit einem Ersatzpferd. Es erinnerte ein wenig an die ADAC-Pannenhilfe, wie wir unter großer Anteilnahme der Dorfbewohner das eine Pferd aus dem Anhänger zogen und das andere hineinbugsierten. Wir hatten die anderen Pferde vor einem Lebensmittelladen an das Fenstergitter gebunden, holten uns aus dem Kühlregal ein Bier und ließen uns von einigen Männern des Dorfes mehr oder weniger gute Ratschläge geben. „Gegen die Bremsen hilft nur Diesel, ihr müsst sie mit Diesel einschmieren!“ „Ich nehme Essig“, meinte ein anderer. „Nur Knoblauchzehen, zerstoßen und mit Wasser vermischt, helfen“, der nächste. Es war, als würde ein Gruppe Halbwüchsiger in Paderborn vor einem tiefergelegten 3er BMW stehen und sich über das beste Tuning-Öl unterhalten.
Mann steht posierend neben einem Frauenplakat
Wir kamen mit der untergehenden Sonne in Reichesdorf an. Nach zehn Stunden im Sattel kannte ich jetzt jeden einzelnen Muskel hüftabwärts. Zum Schluss waren wir fast nur noch im Trab geritten und hatten sogar einen Eselskarren überholt. Wir stellten die Pferde im Garten des ehemaligen Pfarrhauses ab und fielen erschöpft an den gedeckten Tisch. Meine Waden sahen aus, als wären sie über ein Reibeisen gerutscht. In meiner Packtasche hatte ich ein Desinfektionsspray für Pferde. „Nur für Tiere“, stand auf der Dose. Es brannte wie Hölle.
Mann mit blauen  Flecken an den Waden

Wer mit einem Pferd unterwegs ist und nach einer Unterkunft in Siebenbürgen sucht, muss sich keine Sorgen machen. In jedem Dorf gibt es Plätze für die Nacht und Futter. Statt Tankstellen gibt es Dorftränken. Im alten Pfarrhaus von Reichesdorf haben Gerrit und Tony aus Holland schon vor vielen Jahren eine kleine Pension eröffnet. Wir saßen mit ihnen am Tisch im Garten, von der nahen Klosterkirche läutete es drei Mal (Vater, Sohn und Heiliger Geist), ein dampfender Gulasch stand auf dem Tisch und nur Hundegebell, Pferdegetrappel von der Straße und Kindergeschrei drang an unser Ohr. In welchem Jahr lebten wir?

Ich schlief wie ein Stein. Doch mitten in der Nacht wachte ich auf und ging hinaus, um nach Navaro zuschauen. Er stand angebunden an einen Pflock und fraß. Pferde schlafen so gut wie nie, sagte Christian, der ebenfalls bei den Pferden war. Sie können nicht gut liegen, weil es ihre Lunge zusammenpresst und ihrem Fluchtinstinkt widerspricht.

gemalte Blumenwiese
Um die Kühle des Morgens auszunutzen, waren wir waren am nächsten Tag früh losgeritten. Vom Ende des Dorfes an hatten uns noch eine Weile Zigeunerkinder begleitet, die man in Rumänien nicht „Roma“ nennen darf, aus Angst vor Verwechslung. Die Rumänen (Romani) wollen nicht als Roma gelten. Die Kinder warfen kleine Steine auf die Pferde und freuten sich, wenn sie vor Schreck einen kleinen Sprung nach vorne machten. Ein Spiel, dem ich nicht viel abgewinnen konnte. Mein Schreien vertrieb sie schließlich und nach einer Wegbiegung waren wir wieder allein auf weiter Flur. Eine offene Landschaft ohne Zäune, ohne Wegweiser und Verbotsschilder, mitten in Europa. Man sollte sie zum UNESCO-Weltkulturerbe erklären.
gemaltes Schaf
Wir hatten eine Landkarte, auf der die Höhenlinien und Bachläufe eingezeichnet waren, und waren wir uns einmal nicht sicher, fand sich ein Schafshirte, der uns die Richtung wies. In einem Land, das Jahrhunderte lang von der Viehzucht lebte, gibt es in regelmäßigen Entfernungen immer wieder Viehtränken, die uns als Raststätten dienten. Nur einmal stießen wir auf Touristen. Zwei Mountain-Biker aus Dänemark standen im Schatten eines Baumes und hatten ein leichtes Entsetzen im Gesicht. Sie hatten frische Spuren eines Bären im sandigen Boden entdeckt und waren unschlüssig, ob sie weiterfahren sollten. „Die haben mehr Angst vor euch als ihr vor ihnen“, beruhigte sie Christian. Das Getrappel unsere Hufe hätte sie sowieso vertrieben.
gemaltes Haus
Das Ziel hieß Malmkrog. Das Dorf hat es durch eine Stiftung von Prinz Charles zu einiger Berühmtheit gebracht. Der „Mihai Eminescu Trust“, maßgeblich finanziert von Prinz Charles, hat nach der Wende viele Kulturdenkmäler in Siebenbürgen wieder aufgebaut. Manche, wie das kleine Schloss des Grafen Apafi in Malmkrog, werden heute als Gästehäuser vermietet. „Wir kommen aber mit Pferden“, hatte ich am Telefon der Verwalterin gesagt, die das nicht weiter sonderbar fand. Malmkrog ist vielleicht das letzte Dorf der Siebenbürger-Sachsen, in dem man sich auch heute noch in deutscher Sprache unterhalten kann. Viele sind geblieben und sitzen ab dem frühen Abend auf Holzbänken vor ihren Häusern. „Grüß Gott“, ein Gruß, der 1500 Kilometer von Deutschland entfernt ein wenig merkwürdig klingt. Wir waren die einzigen Gäste im Apafi-Schlösschen. Die Verwalterin hatte uns ein Abendessen gekocht und uns anschließend den Schlüssel und eine Flasche selbstgebrannten Schnaps dagelassen. Reiter sind Vertrauenspersonen.
gemaltes Haus
Am dritten Tag waren die Vorbereitungen vor dem Abritt zwischen uns schon einigermaßen eingespielt. Christian legte die Trensen an, Fotograf Armin und ich kümmerten uns um die Sättel. Dann führten wir die Pferde zur Tankstelle an die nächste Dorftränke. Die erste halbe Stunde spürte ich noch die Schmerzen im Gesäß, an den Waden und Oberschenkeln, doch mit jedem Kilometer mehr vergaß ich sie. Wir waren nach Jakobsdorf geritten, einem heute ausschließlich von Zigeunern (Roma) bewohnten Sachsen-Dorf. Bald lief eine Traube fröhlicher Jungs und Mädchen neben uns her und rief auf Rumänisch: „Gebt uns ein paar Lei“. Christian nutze die Gelegenheit für eine kleine Erziehungslektion: „Ihr müsst zuerst fragen: Woher kommt ihr? Wie heißt ihr? Und erst dann: Gebt uns ein paar Lei.“
Kinder auf einem Fahrrad auf einer Dorfstraße

Wo immer wir in diesen Tagen ein Dorf erreichten, es war als käme man nach Hause. Winkende Männer und Frauen, lachende Kinder, bellende Hunde. Wir hatten mit Köhlern im Wald gesprochen und in ihren Hütten das Gewitter abgewartet. Wir waren von Fremden in ihre Häuser eingeladen worden. Vielleicht erinnern Reiter die Menschen an einen uralten Mythos, an den tapferen Ritter, Sankt Georg, den Drachentöter oder auch nur an Little Joe und Ben Cartwright. Jedenfalls lösen sie Gefühle aus, die einem Autofahrer nicht zuteil werden.

Ich jedenfalls hatte meine Angst vor diesen Tieren verloren. Pferde waren mir vorher fremd gewesen, viel zu groß und mächtig. Vielleicht war ich nach vier Tagen noch kein guter Reiter. Aber ich hatte gelernt, die Bewegungen von Navaro mitzumachen und ihn durch Gestrüpp, enge Durchgänge und über Bäche zu bewegen, auch gegen seinen anfänglichen Unwillen.

Wir galoppierten die letzte Strecke so schnell, dass sich über dem sandigen Weg eine Staubwolke erhob. Und noch ein wenig höher, fast unter den am Himmel stehenden Schäfchenwolken, flog meine Seele.

Streckenverlauf

1. Tag: Kleinkopisch – Schaal – Mortesdorf – Reichesdorf (ca. 45 Kilometer von 10 Uhr bis 20 Uhr)
2. Tag: Reichesdorf – Birthälm - Großkopisch - Neudorf - Malmkrog (ca. 30 Km, 8 Stunden)
3. Tag: Malmkrog – Jakobsdorf – Malmkrog (ca. 20 Km)
4. Tag: Malmkrog – Neudorf – Großkopisch – Reichesdorf (ca. 25 Km)

Pferd steht in einer Bibliothek
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