Erinnerungen


von Gunar aus Coswig

gemaltr Diafilm
Über 15 Jahre ist es her, dass wir wieder einmal nach Rumänien reisten. Initialzündung war ein Artikel in der regionalen Tageszeitung: „Die Liebe zu einem traurigen Land“, in dem unter anderem über die Kirchenburg in Birthälm, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten, und eine junge Frau berichtet wurde, die als Wanderin zwischen den Welten versuchte, den Spagat zwischen ihrer Liebe zur Heimat und den wirtschaftlichen Zwängen zu beherrschen.
gemalte Frau im Spagat zwiscehn Herzen und Geld
Zeitungsartikel
Fuhren wir das erste Mal noch mit dem Auto, stellten wir schnell fest, dass dies zwar eine gewisse Unabhängigkeit schaffte, ein schnelles Fort-, aber ein schlechteres Ankommen, dass man mit dem Auto zwar einen Rückzugsort hat, sich aber auch abschottet. Die Perspektive ist begrenzt, die Sehenswürdigkeiten werden abgehakt, ohne dass man sie sich erarbeitet oder historische Bezüge verstehen lernt. Auf der Hatz und mit der Befürchtung eine der Sehenswürdigkeiten zu verpassen, verpassten wir das Leben in Rumänien, zumindest den kleinen Ausschnitt, der uns in den drei Wochen eines Urlaubs geboten wurde.
gemalte Reisende auf einer Schnecke durch eine Berglandschaft
Und so fuhren wir nach diesem ersten Mal nur noch mit dem bequemen tschechischen Nachtzug aus dem VEB Waggonbau Ammendorf in das Land am Karpatenbogen. Die Hohe Tatra grüßte immer im Morgengrauen, bevor uns der Conducator dann in der jeweiligen rumänischen Zielstadt in die Mittagshitze entließ.
Zug
Weiter ging es mit Vorortzügen, die den Vorteil hatten, dass man auch an roten Haltesignalen aus dem Zug springen konnte. Wir wanderten von Kirchenburg zu Kirchenburg, übernachteten in Höfen und Gemeindehäusern, waren darauf angewiesen, auf andere Menschen zuzugehen und das Gespräch zu suchen. Sei es um den Schlüssel zur Kirchenburg zu bekommen, sei es, eine Möglichkeit der Übernachtung zu erfragen. Und so wurde das langsame Reisen zu einem Luxus, der uns viele Erlebnisse und Begegnungen bescherte und den Blick für Kleinigkeiten und Details schärfte.
gemalte Wanderschuhe
Kirchenburg Gartenzaun mit Kirchenburg Gänse laufen auf der Dorfstrasse
Und so erreichten wir irgendwann die stolze Burg von Birthälm / Biertan. Der geografischen Lage, der Bestimmung als Bischofsitz und nicht zuletzt dem Schutzstatus der UNESCO sei Dank, zeigte sich die Kirchenburg in einem guten baulichen Zustand. Es gab zwei oder drei Pensionen im Dorf, das Gemeindehaus war für Gruppenreisende hergerichtet, ein Restaurant hieß die Gäste willkommen. Ein sanfter Tourismus hatte vor Ort zu ein wenig Wohlstand im Dorf geführt.
Auch wir blieben mehrere Tage da und unternahmen Wanderungen in die Umgebung, nach Malmkrog, um die wunderschönen und in einer Kirchenburg seltenen gotischen Freskenmalereien zu besichtigten, nach Reichesdorf und nach Hetzelsdorf.
Freskenmalerei
Neben der sehr schönen Kirchenburg von Hetzelsdorf fiel uns eine große Kapelle auf dem etwas abseits gelegenen Friedhof auf. Vor dem Eingang zum Friedhof zeigte sich die Erde auf den ersten Blick aufgewühlt, Furchen und kleine Wälle durchzogen die Wiese wie ein Tierbau. Auf den zweiten Blick zeigte sich, dass die Furche einen Irrgang bildete und direkt vor dem Friedhof endete. Später im Dorf wurde uns dann erklärt, dass man mit diesem Labyrinth einem alten Glauben Rechnung zollt, nachdem bei Tod eines Kindes, dieses aufgrund des zeitigen Sterbezeitpunktes von einem bösen Geist befallen sein musste. Um diesen Geist abzuschütteln, ihn nicht auf den geweihten Boden des Gottesacker zu lassen und dem Kind eine friedvolle Ruhe zu ermöglichen, wurde der Sarg durch das Labyrinth getragen, bevor das Tor zum Friedhof geöffnet wurde. Der Bewohner konnte sich erinnern, dass er noch in den späten 1980er Jahren einem derartigen Ritus beiwohnte.
gemaltes Labyrinth mt Sarg davor
Wiese
Durch einen kleinen Zufall führte uns einer der Ausflüge auch nach Dupus / Tobsdorf. Obwohl dieses kleine Dorf nur wenige Kilometer und durch eine Hügelkette getrennt, nordwestlich von Birthälm liegt, gehört es bereits zur Gemeinde Hetzeldorf. Hier zeigte sich schon die stark begrenzte Ausstrahlung, die der kleine wirtschaftliche Aufschwung in Birthälm geschaffen hatte. Mehrere Höfe waren verlassen, Farbe und Putz bröckelten und viele der Gärten waren unbestellt. Die Kirchenburg war seit über einhundert Jahren schon keine Burg mehr und die hohen Mauern abgetragen. Einzig der Kirchenbau, der als Wehrkirche ausgeführt war, zeugte von ehemaliger größerer Bedeutung.
gemalte Dorfhäuser
Kirche
Wir fragten zuerst eine Malerbrigade am Pfarr- oder Kulturhaus, ob sie denn wüssten, wer den Schlüssel der Kirche verwahrt. Der Lehrling wurde angewiesen, rannte sofort zu einem der Häuser im Dorf und kam in Begleitung eines älteren Herren zu uns zurück. Herr Kartmann (67 Jahre alt) schloss uns die Türen auf und führte uns. Die evangelische Kirche hat dieses Gotteshaus bereits fast aufgegeben, der Altar stand bereits in Medias, ein Teil des Gestühls, die Fahnen und die Orgel sollten in Kürze folgen. Die Dielenbretter waren nass und der Putz stellenweise abgehackt. Durch die Hanglage der Kirche drückt das Schichtwasser immer wieder durch das Mauerwerk, aber das Geld für eine wirksame Abdichtung fehlt.
gemalte nach Hilfe rufende Kirche im Wasser
Den schönen und qualitätsvoll gearbeiteten gotischen Altar besichtigten wir später in der Stadtpfarrkirche in Medias. Er steht dort im nördlichen Seitenschiff gut aufgehoben, aber etwas fremd. Für uns dagegen wirkte er wie ein Bekannter und mit etwas Wehmut dachten wir an seine allmählich verblassende Geschichte.
In Tobsdorf gab es noch vier Kirchgänger und fünf teilweise deutsche Familien. Ein Gottesdienst fand nicht mehr statt, aber die Glocke wurde noch regelmäßig geläutet. Diese Arbeit verrichtete Herr Kartmann. Er könne zwar auch mal die Leute aus Hetzelsdorf oder Birthälm läuten lassen, aber nur mittags. Und wenn schwarze Hagelwolken nahen, dann darf nur er läuten, denn dann würden die Wolken vorbeiziehen und Mensch, Vieh, Häuser und Ernte würden verschont. So war es zumindest die letzten Jahre, seitdem er die Kirche besorgte, der Fall. Das Läuten wurde auf Anordnung des Pfarrers beibehalten, ein kleiner Lebenshauch an diesem Ort der Auflösung.
gemalte Glocken über Dorfhäusern
Ansonsten hielt man aber die Verbindung zu den Deutschen in den Nachbargemeinden. Es gab gemeinsame Gottesdienste und natürlich auch andere Veranstaltungen und Treffen mit den Rumänen im Dorf. Aber früher, noch vor ungefähr vierzig Jahren, waren die Gottesdienste in Tobsdorf gut besucht, die Frauen und die Männer saßen getrennt im Gestühl, auf der Empore saßen die Burschen, getrennt nach Ungedienten und Männern, die ihren Wehrdienst schon geleistet hatten.
gemalte Bänke mit ungediensten und gediensten Männern
Während wir uns unterhielten kam Frau Kartmann vorbei. Sie hatte ihren Mann den Schlüssel holen sehen und wollte nun nachsehen, ob er ihr nicht ausgebüxt war. Sie sprach sächsisch und wir verstanden am Anfang gar nichts, bis ihr Mann dann übersetzte oder sie Hochdeutsch sprach. Auch sie war an uns Urlaubern interessiert und erzählte uns dann lachend, dass sie noch nie im Urlaub waren.
gemalte Frau denkt an Urlaub
Ihr Mann widersprach, wenn wir unseren Urlaub in Siebenbürgen verbringen würden, dann wäre für sie doch das ganze Jahr Urlaub. Sie entgegnete, sie komme das ganze Jahr nicht vom Hof, worauf er antwortete, sie gehe doch gerade zum schönen Pfarrgarten und außerdem war sie doch erst vor kurzem in Medias. Sie hatte ein schlimmes Bein und war deswegen zur Klinik in die Stadt gefahren. Aber „nu ja, was kommt, geht auch wieder...“
gemalte Klinik mit Bein davor
Herr und Frau Kartmann lebten von der Rente, einem kleinen Kirchensold und dem eigenen Hof. Außerdem bewirtschafteten sie den Pfarrgarten. Sie besaßen eine Kuh, die jeden Morgen gegen 7:00 Uhr auf die Weide gebracht wurde, ein Schwein, ein paar Hasen, neun Hühner und etliche Küken. Der Sack, den Frau Kartmann gerade im Pfarrgarten mit Grünem füllen wollte, reichte den Hühnern für zwei Tage.
gemalte Haustiere
Wir unterhielten uns über die Ausgewanderten und er stellte fest, dass er ohne seine Arbeit auf dem Hof gar nicht wüsste, was er machen sollte. Er war dort glücklich, bloß in einer Wohnung – nein danke. Auch Herr Kartmann hatte einmal an die Auswanderung gedacht. Er hatte alle Papiere schon beantragt, seine Frau aber bat ihn, sie nicht abzuholen und nun lagen sie schon seit zehn Jahren bei den Behörden der Stadt Medias.
gemalte Ausreisepapiere mit Spinnweben
Die beiden scherzten sehr viel miteinander, neckten sich wie junge Leute und sahen sehr glücklich aus. Ihr Humor und die Freude, aber auch die harte Arbeit hatten sich tief in ihre Gesichter eingeschnitten. Wir baten, sie fotografieren zu dürfen und es entstand zumindest in unseren Köpfen eines unserer schönsten Bilder. Beide umarmten sich, nahmen den Hut vor die Brust, fuhren sich noch einmal durch das Haar und schauten in die Kamera, man sah die Schwere und Armut ihres Alltages, aber auch den Reichtum ihres Glücks und die Liebe dieser beiden alten Leute.
gemaltes Pärchenmit verliebten Augen
altes Pärchen steht auf der Straße
Nach ihrer Adresse befragt, gaben uns die beiden sogar noch ihre alte Postleitzahl 1343 an, durch Zufall erfuhren wir dann auf einem Postamt, dass dieses System landesweit bereits vor sieben Jahren durch sechsstellige Nummern ersetzt wurde.
Wir schrieben uns noch einige Zeit Briefe, Herr Kartmann starb wenige Jahre später und der Kontakt zu Frau Kartmann schlief ein.
gemalter Brief
Wie wird es wohl heute in Tobsdorf aussehen und wer wird heute die Menschen vor den Gefahren eines Unwetters warnen?
gemaltes Fragezeichen
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