Im grauen November 1991 in Bukarest


Bilder aus dem Gedächtnis gekramt


von Robin Kendon

gemalter Kopf mit Gedankenpuzzel
Vor 30 Jahren war ich einmal in Bukarest, bisher mein einziger Besuch in Rumänien. Keine touristische Reise, kein Familienbesuch. Kein schönes Wetter, keine Kulturveranstaltungen oder Ausflüge. Nein, es war eine ganz andere Reise, journalistisch - investigativ würde man es heute nennen - aber vor allem menschlich neugierig. Ich hatte gerade ein Jahr lang in Stuttgart mit Asyl suchenden Menschen gearbeitet, darunter waren viele aus Rumänien. Es waren Rumäniendeutsche, ethnische Rumänen und rumänische Roma, alle mit ihren eigenen Gründen, das Land zu verlassen. Mit einem Ehepaar aus Bukarest hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Es war also bestürzend, als der Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde, obwohl ich wusste, dass beide gute Gründe hatten, ihr Land zu verlassen, weil sie tatsächlich Verfolgung fürchten mussten. Ich wollte also etwas herausfinden, was sie im Gerichtsverfahren gegen diesen Bescheid verwenden könnten...
gemalter abgelehnter Asylantrag

Ankunft im Bahnhof Bukarest Nord
Hinter mir lag eine Fahrt mit dem Nachtzug, ich hatte einen Platz im Liegewagen und habe eher schlecht geschlafen. Unterwegs waren durch das Abteilfenster die rumänische Landschaft und die vielen Unterwegsbahnhöfe zu sehen. Ein Übergang von der sozialistischen zur postsozialistischen Zeit war noch kaum wahrzunehmen. Ab und zu fiel zwar bunte Werbung für westliche Markenprodukte auf, aber sonst waren gedämpfte Farben die Regel - an Gebäuden, an alten Werbetafeln, auch in der Natur. Im grauen November unter bewölktem Himmel schien alles getrübt zu sein - wie meine Stimmung als ich die Hauptstadt erreichte. Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich um die Mittagszeit angekommen, kühl und windstill, vielleicht schien die Sonne, in meiner Erinnerung war es aber vor allem eins: grau.
gemalter Robin im Zug
Den langen Bahnsteig bis in die Bahnhofshalle wurde ich mindestens dreimal angequatscht, ob ich eine Unterkunft suche. Ich fiel auf, als Rucksack tragender Westeuropäer, der mit diesem Zug anreiste. Trotzdem ich durch meinen zielstrebigen Gang versuchte, vorzutäuschen, dass ich mich hier auskannte, wurde ich bis zum Taxistand von weiteren, Geschäfte anbietenden Menschen angesprochen - ob ich Geld wechseln, Souvenirs kaufen wollte, und nicht zuletzt von anderen Fahrern, die mir zuerst auf Rumänisch, dann auf Deutsch oder Englisch einen besseren Preis versprachen, wohin ich wollte. In meiner trüben Stimmung wollte ich mich aber nicht länger als nötig hier aufhalten, nahm den Bahnhof also kaum im Augenschein. Ich hatte von meinem Freund eine Art Anweisung, wo ich ein Taxi nehmen sollte, ich hatte die Adresse seiner Mutter, dort wollte ich hin.
gemalte Hände greifen nach Robin
Der Taxifahrer muss wohl genug Englisch gesprochen haben, die Adresse habe ich ihm auf dem Zettel gezeigt. Die Fahrt dauerte nicht lange, führte zuerst auf großen mehrspurigen Straßen, dann in ein Neubaugebiet, das in vielen osteuropäischen Großstädten jener Zeit liegen könnte. Unterwegs sah ich überwiegend andere osteuropäische Autos, vor allem der Marke Dacia, für mich eine Version eines alten Renault 12. Zum Glück konnte der Taxifahrer bis fast an den richtigen Aufgang heranfahren, der auf der Rückseite eines längeren Wohnblocks lag. Ich hätte ihn niemals allein gefunden, dachte ich, obwohl klar war, dass mir jeder dort den Weg gezeigt hätte. Also bin ich angekommen, bei der Mutter meines Freundes, die dort mit seiner Schwester wohnte. Leider hatten wir keine gemeinsame Sprache, so dass sich unsere Kommunikation auf das Nötigste beschränkt war. Das war sehr bedauerlich, denn ich war ja da, um ihrem Sohn zu helfen. So gern hätte ich von ihnen mehr erfahren - über ihr Leben in Bukarest und die gesellschaftlichen Veränderungen im Land. Nichtsdestotrotz habe ich eine warmherzige Gastfreundschaft erlebt, als ob ich im Bauernhof zu Besuch gewesen wäre. Es gab Eingekochtes, vermutlich aus einem Garten irgendwo, nicht nur Gekauftes. Die Mutter meines Freundes war ja garantiert nicht in so einer Neubauwohnung groß geworden.
gemalte Türen

Szenenwechsel
Im Foyer eines großen Bukarester Hotels am Vormittag. Ein Kommen und Gehen vieler Menschen. Darunter sind auch Hotelgäste mit Gepäck, wohlhabend gekleidet, stark geschminkte Frauen, die Männer im Anzug und Mantel, sie lassen das Hotelpersonal ihr Gepäck bewegen. Die meisten Menschen im Foyer scheinen aber, den Ort als Treffpunkt für Verabredungen und Gespräche aller Art zu nutzen. Manche sind von draußen gekommen und tragen noch ihren Mantel, andere sitzen auf den Sesseln, trinken Kaffee, vielleicht wohnen sie gerade im Hotel. Da ich nur die wenigsten Gesprächsfetzen, diejenigen auf Englisch, verstehe, kann ich nur ahnen, warum sie alle hier sind. Der Begriff geschäftiges Treiben fällt mir dazu ein. Immer mal wieder steht jemand am Hoteltresen und bekommt vom Personal ein Telefon gereicht. Die Gespräche sind mal kurz, mal länger, oder kommen gar nicht zustande. Manche probieren es nach wenigen Minuten wieder, andere beenden ihr Telefonat und verlassen dann das Foyer. Nachdem ich all das eine Weile lang beobachtet habe, gehe ich auch zum Tresen, bitte um ein Telefon. Denn ich muss mich auch mit Menschen in Bukarest verabreden. Auf Englisch gefragt, höfliche Antwort, das Telefon wird auf den Tresen gestellt. Nach meinem Anruf habe ich, wie die anderen, dem Personal dankend zugewinkt. Zahlen musste ich nicht. Das System dahinter verstehe ich nicht, weiß nur von einem rumäniendeutschen Bekannten in Stuttgart, dass man es so macht. So gelingt es mir, die Menschen aufzuspüren, die mir etwas vom Umsturz Ende 1989 erzählen können und wie es für meinen Freund aussehen könnte, wenn er zurückkehren müsste.
gemaltes Telefon

Stadteindrücke
Von den einzelnen Gesprächen, die ich mit verschiedenen Menschen - Journalisten, unabhängig politisch Aktiven, und anderen - hatte, weiß ich fast keine Details mehr. Ich weiß aber noch, dass ihre Analyse des Geschehens Ende 1989, als Ceausescu gestürzt wurde, faszinierend war - ein Blick von innen, der in Deutschland nicht in den Medien zu finden war. Ich konnte aus meiner Erfahrung mit der politischen Wende der DDR einiges zuordnen und habe vieles notiert und nachher verarbeitet. Bilder von den Menschen sind aber nicht mehr aus dem Gedächtnis auszukramen. Schade, eigentlich, denn es waren Menschen, die wirklich etwas zu sagen hatten. Manchmal habe ich mich später gefragt, welche von Ihnen vielleicht später in der eigentlichen demokratischen Entwicklung Rumäniens eine wichtige Rolle gespielt haben. In dieser grauen Stadt waren sie für mich wie ein Lichtstrahl - Menschen mit Wissen und Weitblick.
gemalte Häuser und Menschen mit einem Sonnenstrahl
Sie zu finden und zu treffen, mal in einem Café, mal in ihrem Büro, war für mich nicht einfach, weil ich mich orientieren musste in dieser großen Stadt, deren Sprache ich weder sprechen noch lesen konnte. Ich wollte gleichzeitig auch etwas von der Stadt und ihrer Stimmung wahrnehmen. Ich bin auf den Straßen sicher weiter und auf Umwegen gelaufen, als nötig gewesen wäre. Das war im kalten Spätherbst nicht gerade aufmunternd. Ich habe Teile der alten Stadt gesehen, aber auch große, sozialistisch gestaltete (verunstaltete?) Gebiete überquert. In manchen Straßen abseits vom großen Geschehen wurde es mir gelegentlich unheimlich, weil ich die Menschen, die mir entgegen kamen, nicht einschätzen konnte - da spielten meine Vorurteile mit meinem Gemütszustand manchmal verrückt. Dennoch: das eine Klischee der Zeit, nämlich die Geschichte der vielen „Straßenkinder“ in Bukarest, ist mir nicht begegnet. Von Gruppen kleinkrimineller Kindern, die man tunlichst vermeiden sollte, war keine Spur. Im Gegenteil, in den heruntergekommenen Ecken habe ich weniger Aufdringlichkeit erlebt als am Bahnhof und den zentralen Plätzen, wo mehr Menschen aus dem westlichen Europa zu sehen waren. Dort gab es womöglich mehr für die Taschendiebe...
gemalte Trümmer und Kriminalität

Einmal aufs Land
Mit einem Gesprächspartner aus Bukarest fuhr ich einmal aus der Stadt aufs Land. Wir besuchten mit dem Auto zwei Dörfer, etwa 30 km entfernt, mitten in einer ziemlich flachen, kargen Landschaft. In der Nähe sah ich einen kleinen Fluss, aus dem abends schon der Nebel über die Felder stieg, als wir weggefahren sind. Starke Kontraste prägten die Dörfer: heruntergekommene Häuser und Grundstücke standen anderen gepflegten, neu gebauten Gebäuden gegenüber. Armut und Geld nebeneinander, geschotterte Wege und einige wenige asphaltierte Straßen. Es sah nicht so aus, als hätte der Sozialismus hier viel investiert. Schon nach kurzer Zeit nach Ceausescus Sturz zeigten sich dennoch die Unterschiede im Reichtum der Einwohner.
gemaltes schönes Haus neben verfallenen Häusern
An diesem Tag und bei diesem Besuch ging es nicht um meinen Bekannten in Stuttgart, sondern um die Erfahrungen der Roma-Minderheit in diesen Zeiten des Umbruchs. Wir trafen uns dort mit Roma-Vertretern sowie mit dem Bürgermeister. Im Frühjahr 1991 war es zu Gewalt zwischen Teilen der ethnisch rumänischen und der Roma-Bevölkerung gekommen. Ausgebrannte Häuser zeugten von der Gewalt, die auf einen Streit zwischen zwei Männern gefolgt war. Einige verrußte Ruinen standen noch verlassen, andere wurden gerade repariert. Im Gespräch mit dem Bürgermeister haben wir über Projekte für die Entwicklung der Dörfer und die Versöhnung gesprochen. Dabei habe ich - damals kein Kaffeetrinker - in zwei Stunden mehr Kaffee getrunken, als sonst in zwei Monaten: die Gastfreundschaft musste ich annehmen. Ob ein Schnaps auch dabei war, weiß ich nicht mehr. Mir brummte jedenfalls der Kopf.
gemalte Kaffeetassen und Schnapsglas
Eine wichtige Aussage habe ich notiert: Selbst ein Streit mit Todesfolge sei kein Grund für Brandstiftung und Vertreibung unbeteiligter Menschen. Konkrete Ideen und klare Vorstellungen für Maßnahmen und neue Perspektiven machten deutlich: Auch in diesem, auf mich trostlos wirkenden Ort waren Optimismus und Hoffnung sehr wohl vorhanden - wenn auch mit einer realistischen Sicht auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten gepaart. Als ich abends in meinem Zimmer in Bukarest lange nicht schlafen konnte, hatte ich allerdings noch eher die traurigen Bilder vor meinen Augen - die Erkenntnis über die realistische Hoffnung ist mir erst nachher gekommen.
gemalter schlafender Robin

Der Protzbau schlechthin
Wieder in Bukarest habe ich an meinem letzten Tag das einzige Gebäude in der Innenstadt von Bukarest aufgesucht, von dem ich noch ein klares Bild behalten habe, nämlich vom jetzigen Parlamentspalast, dem damals noch nicht ganz fertiggestellten Casa Poporului (Haus des Volkes). Schon in Stuttgart hatte ich von diesem Protz-Projekt Ceausescus gehört. In Gesprächen während meines Aufenthaltes hatte ich einige Anekdoten und abfällige Bemerkungen gehört. So bin ich den heutigen Bulevardul Unirii entlang gelaufen, der damals sicher noch „Boulevard des Sieges des Sozialismus“ hieß. Erst die Zerstörung vieler alter, schöner Gebäude Bukarests hat den Platz für seinen Bau ermöglicht. Breit, lang, mächtig. Auf dem Weg wurde allmählich das gigantische Ausmaß des Gebäudes an seinem Ende immer deutlicher, bis ich auf dem Platz vor ihm stand, wie ein Ameise vor einem Berg. Ein leerer, umzäunter Klotz. Es war dort gar nichts los, der Platz war fast leer, nur wenige Autos fuhren die Straßen entlang. Vor allem aber: Es war kein Platz für einen menschlichen Aufenthalt. Das war ja zu jenem Zeitpunkt noch ein Denkmal zum Größenwahn eines Diktators. Länger als zehn Minuten habe ich es dort nicht ausgehalten - eine Art verstörende Meditation im Stehen, bevor ich wieder gehen musste, um Menschen und menschliche Größenverhältnisse zu finden - in einem Café oder einer Gaststätte, irgendwo, wo es Wärme gab.
gemalter Robin vor dem Präsidentenpalast
Meine Abreise war danach gar nichts besonderes mehr. Ich kannte mich mittlerweile ein wenig aus, hatte mich mit Proviant für die Fahrt ausgestattet, habe mich von meiner Gastgeberin durch Gesten und Lächeln verabschiedet. Am Bahnhof war ein abreisender Westeuropäer auch längst nicht so interessant. Ich habe meinen Platz im Zug gefunden, mein Gepäck verstaut und, voller Gedanken und Eindrücke, auf die Abfahrt gewartet.
gemalter Robin mit Gastgeberin, Reiseproviant und einem Zug

Fußnote
Zurück in Stuttgart habe ich meine Notizen zusammengeschrieben und eine Art Gutachten zur Situation in Rumänien erstellt zur Situation für jemanden, der bei den ersten großen Protesten gegen Ceausescu dabei war, aber nicht Teil des organisierten Umsturzes war. Mein Freund hatte nämlich zu viel gesehen. Ihm drohte tatsächlich die Verfolgung, so die Einschätzungen, die ich gesammelt hatte.
gemaltes Gutachten
Welche Rolle genau dieses Gutachten vor Gericht gespielt hat, weiß ich nicht. Aber danach konnten mein Freund und seine Frau in Stuttgart bleiben, Arbeit finden, Familie gründen. Das ist eine schöne Erinnerung.
gemaltes neues Haus
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