Eine kleine stille Oase an der Șoseaua Pantelimon, heute mitten im Viertel Baicului, einem Gebiet von Wohnblöcken weit im Nordosten der Stadt, wobei der Friedhof viel älter ist als die ‘blocuri’, vielstöckige Wohngebäude aus der kommunistischen Zeit der siebziger Jahre, die ihn heute, allesamt renoviert, traurig grau-sandfarben angestrichen und wärmegedämmt, allseits umgeben. Wenn man so wie ich ganz allein dort ist, kommt es einem fast so vor, als würde das Viertel das Geviert der vielen Gräber dort beschützen und die Ruhe all derer, die dort liegen, bewahren.
Stein gewordene Geschichte findet man hier, anders als auf anderen Friedhöfen mit mehr oder weniger liebevoll bepflanzten Gräbern sind es hier die Grabsteine mit ihren Inschriften, die einen in ihren Bann ziehen. Und anders als anderswo sind hier, in dieser Stadt Menschen aus einer Diaspora begraben, sei es, weil sie hier in Bukarest zu vielen nach langem Suchen ihren Mittelpunkt gefunden haben oder auch nur in einem Moment ihres Lebens hier angekommen sind. Viele sind auf dem Gebiet der heutigen Türkei geboren, aber es finden sich auch Orte wie Caracas oder Cetatea Albă, damals rumänisches Bessarabien, heute Ukraine. Gestorben wurde selbst in Los Angeles, aber die Leichen wurden hierher überführt.
Wohlklingende fremde Namen haben die Menschen, ich habe sie laut vor mich hingesprochen, sicher, dass mir niemand dabei zuhört. Auf vielen Steinen ist die Schrift unlesbar für mich, aber mich faszinieren diese armenischen Schriftzeichen mit ihren Bögen und Schleifen. Porzellanene Fotos steigern meine Neugier. Elegante dunkelhaarige Menschen, Ehepaare, honorige Leute haben hier ihren Platz gefunden. Ich möchte wissen, wie sie in diese Stadt gekommen sind und hier gelebt haben. Der Stein einer jungen Frau, wunderschön und jung verewigt, mit feinen Blumenzeichnungen und armenischer Schrift. Schicksale.
Es gibt einen Stein für die Opfer des Genozids am armenischen Volk durch die Türken 1915. Zur lebendigen armenischen Diaspora, die es in Rumänien als Transitort nach Europa schon lange gab, haben gerade in dieser Zeit viele Armenier hier Zuflucht gesucht und gefunden. Dafür, in der Verteidigung ihrer neuen Heimat kamen viele im ersten Weltkrieg zu Tode. Zum Ende des zweiten Krieges wiederum gingen weiter viele von ihnen einen grausamen Weg, unter Stalin nach Sibirien deportiert, von hier aus. Aus welchem Grund, frage ich mich.
Hurmuz Aznavorian, ein Verwandter von Charles Aznavour, kam als Kind mit seiner Familie Anfang des letzten Jahrhunderts auf der Flucht vor den Osmanen nach Bukarest, wuchs hier auf und machte sich einen Namen als Jurist und später als Politiker der Liberalen Partei in Rumänien, lebte zwischen Paris und Bukarest. Nach dem Krieg von den Kommunisten auf die schwarze Liste gesetzt, verbrachte er die meiste Zeit im Gefängnis und verstarb dort auch 1961 im Gefängnis Botoșani.
Ein ganz anderes Schicksal erlitt Tigran Nazarian, der 2016 fünfundzwanzigjährig an einer schweren Krankheit verstarb und dem damals in Rumänien nicht geholfen wurde, nicht geholfen werden konnte, warum auch immer. Sein Grabstein ist sehr opulent und ragt aus allen anderen stark hervor. Künstlicher Rasen bedeckt die Grabplatte und Sitzbänke, die offenbar viel benutzt werden, stehen auf dem schmalen Weg vor der Grabstelle. Fragen.
Einem einzigen Mann bin ich begegnet, als ich auf dem Friedhof war. Er lief rasch an mir vorbei ohne mich anzusehen, wobei auch ich mich möglichst klein und unscheinbar gab, eben, weil sonst einfach niemand dort war und ich sichtbar eine Fremde. Er ging zu einem frischen Grab.
Und doch, noch eine Begegnung gab es, mit dem Friedhofswärter. Zuerst in der kleinen Kapelle. Die war anfangs geschlossen, doch dann stand plötzlich die Tür offen und ich ging hinein. Er steckte Kerzen an, wir begrüßten uns ‘Bună ziua!’ - ‘Sărut mâna!’ Ich schaute nur kurz ins Innere der dunklen Kapelle, mehr traute ich mich nicht und ging gleich wieder.
Ganz zum Schluss, es wurde schon langsam dunkel, trafen wir uns wieder. Ich machte gerade ein Foto von einem Gedenkstein in schönem roten Sandstein für die Opfer des Genozids.
‘Sie dürfen hier nicht fotografieren!’ Noch ehe ich mich entschuldigen konnte, weil ich das ja nicht wusste, erklärte er mir das lang und wortreich, endete aber dann, ‘aber fotografieren Sie nur weiter.’ So empathisch in unserer gemeinsamen Einsamkeit vereint wünschten wir uns beste Gesundheit und verabschiedeten uns. Ich fotografierte dann nicht mehr.
Und, das hätte ich beinahe vergessen, obwohl es eigentlich das für mich Schönste war, was ich dort gesehen habe, ein kleiner unscheinbarer Stein versteckt unter einem Busch mit einem Gedicht einer Frau an ihren verstorbenen Ehemann.
“La umbra unui pom ai ațipit, dar nu te ai mai trezit. Moartea cea neagră în somnul rece te-a învăluit și de lânga mine te-a răpit. Până când ne vom revedea vei fi vesnic în gândurile și inima mea. Silvia, soția ta”
Im Schatten eines Baumes bist Du eingeschlummert, aber nicht mehr aufgewacht. Dieser schwarze Tod hat Dich im kalten Schlaf eingehüllt und von mir genommen. Bis wir uns wiedersehen behalte ich Dich glücklich in meinen Gedanken und meinem Herzen. Silvia, Deine Frau