Auf der Brücke steht ein kleiner Mann im Overall der Deutschen Bahn. Er schaut mir beim Zeichnen zu. Schließlich: Sind Sie Architekt? Dann: Gefällt es Ihnen hier? - Ja, es gefällt mir, sage ich. - Mir gefällt hier gar nichts, sagt er. Er schaut mich traurig an.
Zum Sachsentag nach Mediasch. Das große Treffen der Sachsen, die meisten von ihnen Ausgewanderte, aus Deutschland Kommende. So streunen Trachten, Hüte und Hosenträger herum. Kaum einer unter 60. Doch aus der Kirche kommen plötzlich junge sächsisch Gekleidete, Paar für Paar, und bald werden sie auf dem Marktplatz tanzen. Hört man näher hin, so stellt man fest: diese jungen Sachsen sind sämtlich Rumänen.
An langen Tischen wird gegessen und sächsische Erinnerungen fliegen durch den Raum. Zu grauslicher Blasmusik tanzen die Rumänen. Ich schau mich im Städtchen um, derweil steht Frieder vor der Parkbank und da spricht ihn ein Herr an, der von einer jungen Frau begleitet wird. - Sind Sie nicht der Herr Schuller? fragt er. - Ja, da haben Sie recht. - Herr Schuller, was machen Sie hier? - Ich warte auf den Dorfschreiber von Katzendorf. - Das ist doch dieser, dieser … Ja, springt die junge Frau ein, bei dem habe ich studiert! Geht er immer noch in hochgekrempelten Hosen herum? - Ja, in der Tat. Warten Sie 5 Minuten, dann werden sie seine hochgekrempelten Hosen hier um die Ecke kommen sehen. Leider hat sie nicht genug Geduld, die Hosen werden kommen und sie wird gegangen sein.
Wir fahren durch das Städtchen Târnăveni an der Kleinen Kokel. Hier war F. vor Jahren mit einem dänischen Komponisten abgestiegen, um die Spuren des ungarischen Komponisten György Ligeti zu suchen, der hier 1923 geboren wurde. Man fragte sich durch, doch niemand kannte ihn mehr. Sie wollten schon weiterfahren, da kam ein alter Mann auf sie zu – er sei der letzte Jude von Târnăveni. Auch Ligeti war Jude und so freute er sich, über ihn reden zu können. Die Ligetis waren arm und die Eltern des Alten hatten ihnen ein Klavier für den Sohn geliehen, denn er hatte ein großes musikalisches Talent.
In Mediasch in das Wohnhaus von Hermann Oberth, das als Museum eingerichtet ist. Nachbar möchte ich nicht sein, denn er hätte immer eine Rakete vor der Nase. Am Eingang dünne blaue Metallstäbe, dazu die Büste des Meisters, der schon als Schüler den Weg zum Mond errechnet und Jules Verne korrigiert hat. Später diente er den Nazis beim Bau der V2 und noch später wurde er als Lehrer Wernher von Brauns Vater der Mondrakete. Im Interieur hallt ein spießig-sozialistisches Rumänien nach. Der Farbton ist wie in allen diesen Enklaven enttäuschter gesellschaftlicher Erneuerung braun, ein irdisch herabgesickertes Ideal, ein heruntergekommenes Rot eben. Der Farbwechsel bezeichnet jenen Stimmungswechsel, der aufkommt, wenn man von der Theorie in die Praxis geht. Aber der Mann, der durch das Haus führt, ist voller Hingabe, er hat vor Begeisterung fast Schaum vor dem Mund, wenn er über das Leben Oberths und seine Nachwirkung für die rumänische Raumfahrt redet.
Da stehen Kosmonautenanzüge in Vitrinen oder galaktisches Gepäck. Auch die ersten Mehrstufenraketen der Welt, die Conrad Haas in Hermannstadt im 17. Jahrhundert entwickelte, sind zu besichtigen. Sie ähneln Feuerwerkskörper. Die Tafeln zu Oberth sind von Sachsen gespendet worden und auf jeder einzelnen steht immer wieder derselbe Satz Oberths, dass er „vor allem ein guter Siebenbürger Sachse sein wollte.“ Nach der dritten Tafel wird es überflüssig, nach der siebten penetrant national. F., der ihn besucht hat, fragte Oberth einmal, warum er als Jugendlicher immer längere Tafeln für seine Formeln benutzte, die sein Vater ihm besorgte, und nicht einen Rechenschieber. „Ach,“ sagte Oberth, „wissen Sie, das Nachdenken braucht auch Zeit!“ Ein sehr guter Spruch gegen die Beschleuniger aller Zeiten.
Am Ende seines Lebens interessierten ihn die Raketen nicht mehr. „Ach, jugendliche Sünden …“ sagte er abwertend. Wichtiger wurde ihm die Parapsychologie, die Erforschung des Lebens nach dem Tod. „Natürlich geht es weiter. Man pätscht nicht einfach die Tür zu und Schluss, sondern man geht durch weitere Gängen und Türen …“ Er war oft auf der Liste der Nominationen für den Nobelpreis, doch bekam ihn nie – weil seine Erfindung waffentechnisch verwertbar war, und das verbat die Satzung.
Fahrt zu den Moldauklöstern Wir fahren zu dritt mit Frieders berühmten Mercedes, der seine 30 Jahre weg hatte und vorne statt eines Sterns einen hölzernen Zweig in der Form eines Y trug: Wünschelroute. Wir fahren über Oraheidi, das im ungarischen Szekler-Gebiet liegt – es macht einen adretten, deutschen, etwas spießigen Eindruck. Hier soll sich Orban auf rumänischem Boden eine Villa gebaut haben. Das Café hat berühmte Kuchensorten. Langsam geht es höher hinauf nach Georghinei, einer kleineren Version von Oraheidi. Die Ungarn lieben baumgesäumte Straßen, die Rumänen, als Hirten, lassen sie eher verkümmern. Lacu Rossa, die Hohe Klamm, wuchtige Felsschluchten ohne jede Sicherheitsmaßnahmen. Da kann jederzeit etwas herabkugeln. Piatra Neamț (Kreuzburg an der Bistritz), eine Stadt, die viele Hand- und Fußballspieler hervorgebracht hat. Hier öffnet sich die staubige, industriebesetzte Ebene auf Roman hin. Dort liegen Tirgu Frumos und schließlich Iaşi. In Roman kommen wir an dem Haus eines großen Dirigenten vorbei: Sergiu Celibidache, der mit den Münchner Philharmonikern berühmt wurde.
In Iaşi sagt Rodica: „Auch ich stamme aus Roman“. Hätte sie einen unbestimmten Artikel vor den Ortsnamen gesetzt, wäre das der Beginn einer Reise gewesen. Sie erzählt von der Frau, die beim Walzertanz mit einem Kollegen, einem Bekannten von mir – starb. Mitten in der Umdrehung sank sie hin. Von der Bettlerschule weiß sie zu berichten. Einmal hat sie beobachtet, wie die Kinder dort militärisch für ihren Beruf gedrillt wurden, morgens früh, in der Nähe des Krankenhauses. Sie mussten Bettelposen annehmen, und wenn diese nicht saßen, dann gab es Schläge von der dicken Lehrerin. „Lauter weinen!“ rief sie, „Armseliger gucken!“
Einmal hatte der Mann eine schwere Augenoperation über sich ergehen zu lassen. Er sagte sich, wenn ich wieder sehen kann, will ich mich mit dem beschäftigen, was mir als erstes in die Augen fällt. Es war ein Gedichtband des rumänischen Nationaldichters Eminescu. So fing er an, alle dessen Werke zu sammeln. Einmal vom Sammelfieber ergriffen, fügte er dieser Kollektion weitere hinzu – über Napoleon, Jules Verne und andere. Eines Tages kam auch der Urgroßenkel von Jules Verne vorbei. Er hat nun 70.000 Bücher, zwei Inkunabeln, 5000 signierte Ausgaben. So wurde er Antiquar. Mehr als alle Bücher ist ihm aber seine Tochter – „ein Genie, sie spricht Japanisch, Griechisch, Hebräisch, Sanskrit – Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch sowieso!“. Sie hat in Japan für die Familie des Tenno gedolmetscht und schließlich ihren Japanisch-Professor geheiratet. Er hat in seinem Laden auch ein Taschentheater, wo oft gespielt wird. Es hat die Größe eines Tisches. „Rhonda“, ruft er, und der Hund folgt. „Eine Schauspielerin!“
Wir klopfen an eine Bürotür. Der Dekan ist da und sagt, er fahre gleich nach Leipzig. Immer wenn wir jetzt irgendwo klopfen, springt einer heraus und sagt, er fahre gleich nach Leipzig. Eine Büste von Shakespeare: überlebensgroß, langgezogenes Gesicht, traurig zur Seite geneigt. Die Bildhauerin hatte zum Zeitpunkt der Erschaffung dieser Büste ihren Mann verloren. Er war damals 25 Jahre alt. Es war ihre Freundin, die bei dem Walzer starb.
Das Hotel Unirea steht mitten im Zentrum, nicht weit vom Hotel Traian, das von Gustave Eiffel entworfen wurde. Wir sitzen zu viert an einem Tisch im 13. Stock, dem Restaurant. Auf dem Tisch stehen drei leere Wassergläser, eins fehlt, das meinige. F. redet über Heinrich Bölls Zeit in Rumänien als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Unsere rumänische Freundin wusste davon nichts, sie ist begeistert, so etwas über Iaşi zu hören.
In diesem Moment hören wir alle neben dem Tisch, im Gang, wo die Kellnerinnen hin- und herlaufen, ein Geräusch – etwas muss aus niedriger Höhe auf den Parkettboden gefallen sein, etwa einen Meter von mir rechts. Wir schauen alle hinüber. Es steht ein leeres Wasserglas dort, es torkelt nicht und macht nicht den Anschein, dass es gefallen ist. Wir sind alle verblüfft. Es stammt nicht vom Tisch, es ist nicht heruntergefallen, es gibt nichts in der Nähe, von woher es gekommen sein könnte. Es konnte auch vorher dort nicht gestanden haben, da die Kellnerinnen so oft vorbeigingen. Tagheller Okkultismus.
F. fragt einen Mann durch das Autofenster nach dem Weg. Der Mann ist vielleicht betrunken, verwechselt jedenfalls rechts und links, greift ins Auto und schüttelt uns die Hände: „Ich bin älter als ihre alle, ich habe alles vergessen. Gute Fahrt!“ Nun fahren wir zu den moldawischen Klöstern, wo Mönche in Souvenirshops Deutsch sprechen und mit vielen Dingen hantieren. Die bemalten Klosterwände, der Jüngste Tag als Fluss auf einer Fassade. Das berühmte Blau von ja … Michelangelo wäre neidisch gewesen, heißt es. Karge Kälte des Herbstes. Fische am Wegrand gegrillt. Der gute Wein, der alles rettet. Die dichte Dunkelheit, die hellen leuchtenden Gärten am Tag: Echo und Vorform des Paradieses. Noch in den Winter hinein werden sie ihre Lichtbotschaften tragen.
Wir schaukeln durch die rumänische Bukowina. Die bukowinischen Kirchen tragen zarte Spitzen in die Höhe, die moldawischen Kuppeln. Kuppeln seien zu königlich, erklärt man uns, daher müssten die Kirchen in der Bukowina sich auf Spitzen beschränken. Die schönen verzierten Häuser am Wegrand. Der Charme des verfallenen mondänen Kurbads Vatra Dornei. Einsame Straßen durch die Berge, manchmal überqueren sie Kühe oder Hunde, ein Hirt mit Schweineherde, eine Kuhhirtin, viele Schafhirten.
F. wartet draußen, wenn wir in die Klöster gehen. Er sitzt auf einer Bank und sieht aus wie eine Autorität. Man fragt ihn also nach den Preisen für Teppiche, Pelzjacken, Stiefel, Hüte, Tischtücher, Schnitzereien. Er setzt sich, als ihm dies zu viel wird, ins Auto. Doch da kommen Touristen um seinen Mercedes mit der Wünschelrute zu fotografieren. „Ach, wie einfallsreich, diese Rumänen!“ Sie denken, es wäre eine Wünschelrute, aber es könnte auch eine Fletsche sein.
Das Blau von? Es ist das Blau von Voroneţ! Die stillen Nonnen umgarnen das Blau, das sich als Fluss aus dem Himmel ergießt. Aber sie sind nicht so fröhlich wie die Mönche zuvor im Kloster Rasça. Einer führte uns brav durch die Kirche, dann fragt er schüchtern, wie teuer denn in Deutschland ein Geländewagen sei, und entschuldigt sich für die Frage.
Im Hause des hoch angesehenen Schriftsteller Mihail Sadoveanu (1880-1961). Es ist ein Landhaus in einem schönen Winkel, neben einem Kloster. Der große Autor, der die rumänische Tradition des Romans und der Novelle mitbegründete, diente sich später dem kommunistischen Regime an und erhielt folgerichtig diese schöne Residenz. Der Zweck heiligt die Feder und dann heiligt die Feder den Zweck.
Auf der Tafel steht geschrieben: „Hier veredelte M. Sadoveanu den Ort am Sonnenuntergang seines Lebens und gab der Feder die Ehre.“ Bevor wir darüber herfallen, sollten wir uns einfach klar machen, dass Kulturen die Sprache unterschiedlich gebrauchen.
Abends am Borgo Pass, wo Jonathan Harker noch einmal durchatmete und ein Rezept für seine Mina aufschrieb. Bald ist unsere Reise zu Ende. Rezepte habe auch ich aufgeschrieben, nur wozu und für wen. Dramatischer Sonnenuntergang vor den bewaldeten Bergen, ein Fall des Vorhangs von großer Schönheit. Ein ausgestopfter Bär wartet im Hotel Transylvania.
Ein Komponist, ein Dichter, ein Anthroposoph. Und Haltrich. Wir fahren durch Sächsisch Regen, einer Kleinstadt bei Bistritz. Rudolf Wagner (1903-1969) wurde ein angesehener Komponist in der DDR und nannte sich ungarisierend Wagner-Régeny. Der Dichter aus Regen ist Georg Maurer (1907-1971), den die Leipziger zumindest kennen sollten, denn er hat nicht nur das dortige Rosental besungen, sondern auch Herz und Hirn vieler junger Lyriker am Johannes R. Becher Institut, dem heutigen Deutschen Literaturinstitut, geformt. Ah, seine Witwe lebte vor einigen Jahren noch, ich durfte sie besuchen! Und wir sprachen über Sächsisch Regen.
Zwei, die es in der DDR zu etwas brachten. Der andere brachte es in der Anthroposophie zu etwas: Friedrich Benesch. Ein Priester der Christengemeinschaft und produktiver Autor und Vortragsreisender. Lange nach seinem Tod 1991 kam heraus, wie braun seine siebenbürgische Vergangenheit gewesen war. So braun, dass ihn die Evangelische Kirche schon 1936/37 aus dem Amt entheben wollte wegen seiner nationalsozialistischen Umtriebe. Und da ist Haltrich, Josef, auf dessen Spuren diese Reise eigentlich auch geht, der Märchensammler. In Regen wurde er geboren. Wir dürfen sogar das Pfarrhaus betreten. Dem freundlichen rumänischen Pfarrer ist es peinlich, nichts von Haltrichs Zeit in Regen zu wissen. Er lässt uns gern in die Archivbücher sehen. Die unsichtbaren Fäden der Geschichte: eine in die andere verwickelt.
Veränderte Fassung eines Berichts, der zuvor in Elmar Schenkels Buch Transsilvanien Express (Leipzig: Edition Hamouda 2017) erschienen ist. Elmar Schenkel war von 2011-12 Dorfschreiber in Katzendorf/ Cața, Siebenbürgen.