Siebenbürgen - süsse Heimat


Bilder: Thomas Heller
Text: Petra Sepsy

gemalter Clip
schwarz-weiß Portrait eines Mannes in Uniform mit Trompete
Andreas Gottschling, Stejărișu/Probstdorf
Über viele Jahre pflegte die sieben­bür­gi­sche Bücher­welt ein ge­die­genes Schat­ten­da­sein. Zu­min­dest für Au­ßen­ste­hende. Erst durch die zu­neh­mende Kon­fron­ta­tion mit dem Ver­fall und der Ver­gäng­lich­keit des ge­bau­ten Erbes der Sie­ben­bür­ger Sach­sen ge­riet Be­we­gung in die Print­me­dien. Die Ver­lust­angst er­zeugte das Be­dürf­nis, dieses wert­volle kultu­relle Ver­mächt­nis für die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen in Wort und Bild fest­zu­hal­ten. Als Neben­ef­fekt ge­wann ein bis dato ver­nach­läs­sig­ter Land­strich auf der euro­päi­schen Touris­mus­karte plötz­lich Beach­tung. Dazu spielte die Ver­lei­hung eines UNESCO-Welt­erbe-Titels für sechs säch­si­sche Kirchen­bur­gen in Rumä­nien dieser neuen Auf­merk­sam­keit eben­so in die Kar­ten wie die zu­neh­mende Rück­be­sin­nung der Men­schen auf Natur, Nach­hal­tig­keit und Ent­schleu­ni­gung.
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Der siebenbürgische Bücher­kos­mos ver­wan­delte sich suk­zes­sive in eine viel­fäl­tige und bunte Land­schaft mit Bild­bän­den ein­zig­ar­ti­ger Kir­chen­bur­gen, Reise­füh­rern mit oder ganz ohne Ge­heim­tipps, Lebens­er­in­ne­run­gen, Küchen­ge­schich­ten oder histo­ri­schen Auf­ar­bei­tungen.
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Einen ganz eigenen, nämlich einen schwarz-weißen Weg geht der Bild­band SIEBEN­BÜRGEN SÜSSE HEIMAT. Weder die Kul­tur­gü­ter noch die Ge­schichte oder Land­schaft Trans­syl­va­niens stehen bei Foto­graf Thomas Heller im Mittel­punkt. Auch wenn der Titel dies sug­ge­rie­ren könnte. Die Haupt­dar­steller seines Streif­zugs durch Sie­ben­bür­gen sind ein­zig und allein die zurück­ge­blie­benen Sach­sen. 400.000 kehr­ten im letzten halben Jahr­hun­dert dem Land ihrer Vor­fah­ren den Rücken. Nur 15.000 blie­ben bis heute ihrer Heimat „jen­seits des Waldes“ treu. Inso­fern stellt die ver­blie­bene deutsch­spra­chige Min­der­heit als Be­wahrer ihres mate­riel­len und imma­te­riel­len Er­bes eben­falls ein Kul­tur­gut dar. Leider eines mit sehr be­grenz­ter Halb­werts­zeit. Moti­va­tion genug für den Dresd­ner Foto­gra­fen, aus die­ser zwangs­läu­fi­gen Flüch­tig­keit der mensch­li­chen Exis­tenz ein Werk gegen das Ver­ges­sen zu schaffen.
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Siebenbürger Sachsen als Hauptdarsteller
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97 Siebenbürger Sachsen bannte Thomas Heller auf 68 Bild­ta­feln für eine blei­bende Er­in­ne­rung vor die Kamera. Dabei be­ge­gnen wir einem facet­ten­rei­chen Sachsen-Quer­schnitt vom zwei­jäh­ri­gen Klein­kind bis zur 90-jähri­gen Omama, wobei die Mehr­zahl die 70 be­reits weit über­schrit­ten hat. Die Por­trä­tier­ten stam­men aus den un­ter­schied­lichs­ten sozia­len Schich­ten und sind in ver­schie­de­nen in­fra­struk­tu­rel­len Um­fel­dern auf­ge­wachsen. Der Groß­teil auf dem Land, nur wenige in der Stadt. Und ge­nau­so be­kom­men wir sie auch un­ver­fälscht auf den Schwarz-Weiß-Foto­gra­fien zu sehen. In ihrer all­täg­li­chen Um­ge­bung auf dem grob ge­pflas­ter­ten Hof, im vom Un­kraut über­wu­cher­ten Gar­ten, am Küchen­tisch, auf der Gasse oder am Arbeits­platz. Häufig sind hier­bei dem Foto­gra­fen und die Men­schen sich selbst genug. Nur selten ver­rät ein in der Hand ge­hal­tenes Acces­soire eine stolze Lei­den­schaft oder be­ruf­li­chen Er­folg. Und trotz aller Unter­schiede ver­bindet die Buch-Pro­ta­go­nis­ten eine Ge­mein­sam­keit. Sie sind Daheim­ge­blie­bene in ihrem
Siebenbürgen, Land des Segens,
Land der Fülle und der Kraft
mit dem Gürtel der Karpaten
um das grüne Kleid der Saaten,
Land voll Gold und Rebensaft!
Betrachtet man, das bekannte Sieben­bür­gen­lied im Hin­ter­kopf, das Por­trät von Anna Binder aus Stol­zen­burg, dann braucht es keiner Worte. Man ver­steht ein­fach. Keine Ver­spre­chun­gen von einem be­que­me­ren, moder­ne­ren Leben im Westen wer­den dieses sie­ben­bür­gisch-säch­sische Ur­ge­stein je vom Land ihrer Vor­fah­ren weg­lo­cken können. Zu tief­ver­wur­zelt, ja bei­nahe fest­ge­wachsen steht die 84-Jäh­rige in ihrem Gar­ten. Ihrem Flecken Erde. Ihrer süßen Heimat.
schwarz-weiß Portrait einer Frau in ihrem Garten
Anna Binder, Slimnic/Stolzenburg

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Im Buch unterwegs
Heimat prägt die Menschen. Ihre Hal­tung, ihr Er­schei­nungs­bild, ihre Ge­sich­ter sind Spie­gel­bil­der die­ser Prä­gung. Das Leben für die sie­ben­bür­gisch-säch­sische Min­der­heit war im letzten Jahr­hun­dert kein ein­faches. Die Heimat hat ihnen viel ab­ver­langt. Be­son­ders auf dem Dorf be­stimm­ten be­schwer­liche kör­per­liche Arbeit, die Angst um Aus- und Ein­kom­men, um Ernte, Dürre, Krank­hei­ten den All­tag. Dieses tonnen­schwere Sor­gen­pa­ket blickt uns aus vielen Ge­sich­tern ent­ge­gen. Müde Augen, Stirn­fal­ten tief wie Acker­fur­chen, ein harter Zug um die Mund­win­kel. Sehen sie des­we­gen un­glück­lich aus? Nein. Er­schöpft und weh­mü­tig? Ja. Ein Lächeln be­kom­men wir nur selten ge­schenkt.
Doch wir entdecken auch zahl­reiche selbst­be­wusste, in sich ruhende und zu­frie­dene Menschen zwischen den Buch­sei­ten. Neben lo­ka­len Per­sön­lich­kei­ten, Doktor­ti­tel­trä­gern, Ehren­bür­gern tref­fen wir auf Bauern, Hand­wer­ker, Rentner, Haus­frauen, Menschen wie du und ich. Oder auf Lehre­rin­nen wie Her­mine Jinga Roth aus Reuß­dörf­chen und Rose­ma­rie Müller aus Al­zen, die sich als selbst­lose Stützen ihrer Ge­meinde für die Zu­kunft ihrer Heimat enga­gieren.
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schwarz-weiß Portrait einer Frau vor einem Haus
Hermine Jinga-Roth, Rusciori/Reußdörfchen
schwarz-weiß Portrait einer Frau und einem Kind in einem Hof
Rosemarie Müller und Matthias Fülöp, Țigmandru/Zuckmantel
Auch wenn die Personen stets im Vor­der­grund der jewei­li­gen Moment­auf­nahme stehen, lohnt ein zweiter Blick auf die sie um­ge­ben­den De­tails. Ob be­wusst oder unbe­wusst, in vielen Foto­gra­fien steckt eine Menge Sym­bo­lik. Seien es die ver­dorr­ten Reb­stö­cke oder das brö­ckelnde Mauer­werk als Zeichen des Ver­falls, der treue Vier­beiner als letzter ver­blie­bener Lebens­ab­schnitts­be­glei­ter, der Kirchen­man­tel, den sich Maria Balint aus Reuß­dörf­chen mangels an­der­wei­tiger Gele­gen­hei­ten über­ge­wor­fen hat, die un­be­rührte Natur­land­schaft bei Rohr­bach, die jeder­zeit griff­be­rei­ten Reisig­besen an der Haus­wand oder die auf­ge­sta­pelten Holz­scheite im Hof, die nach wie vor zum Be­hei­zen der Stube be­nötigt werden.
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schwarz-weiß Portrait einer Frau in ihrem Hof
Maria Barlint, Rusciori/Reußdörfchen
Porträts mit Tiefgang
Zum Auftakt der Bildtafeln entführt uns Thomas Heller exakt in die geo­gra­fische Mitte Rumä­niens. Nach Dealu Frumos, um genau zu sein. Früher hieß die einst­mals säch­si­sche Ort­schaft Schön­berg. Wie auch Frau Nico­lescu früher Frank hieß. Ihre 84 Jahre sieht man ihr nicht an, ihre Wur­zeln schon. Auf­recht, städtisch ge­klei­det, steht sie in ihrer Wohn­stube, Por­trät vor dem Por­trät ihrer (Groß?)Eltern im Sonn­tags­staat. Die Ähn­lich­keit ist un­über­seh­bar.
schwarz-weiß Portrait einer Frau vor einem Sofa
Sofia Nicolescu geb. Frank, Schönberg
schwarz-weiß Portrait eines Mannes in einer Holzwerkstatt
Michael Gottschling, Großschenk
Vertrauenswürdige, zufriedene Au­gen blicken uns aus Groß­schenk ent­ge­gen. Ein Arbeits­platz wie vor ein­hun­dert Jah­ren. Für Michael Gott­schling (67) liegt das Ren­ten­ein­tritts­al­ter noch in wei­ter Ferne. Die Arbeit in der Holz­werk­statt be­deutet Halt, Lebens­in­halt, Lebens­un­ter­halt. Säch­si­sches Hand­werk war und ist immer noch an­ge­sehen. Der Qua­li­tät und der Zu­ver­läs­sig­keit wegen. Und so wird der Groß­schen­ker wahr­schein­lich noch min­des­tens ein wei­te­res Jahr­zehnt in seiner Werk­statt tüf­teln, drech­seln, sägen oder tischlern.
Gelebte Leben in schwarz-weiß
gemalter Clip
Dagegen ist Johann Schlager längst im offi­ziel­len Ruhe­stand an­ge­langt. Doch man spürt, dass es mit der Ruhe nicht weit her ist. Die Schuhe vor dem Be­tre­ten des Hauses ab­ge­streift, die Arbeits­schürze noch über der guten Klei­dung, gönnt sich der 84-jäh­rige Neu­dor­fer nur für den kurzen Augen­blick der Bild­auf­nahme eine kleine Pause am Küchen­tisch. Danach geht es wahr­scheinlich sofort wieder in den Garten hinaus. Dort gibt es das ganze Jahr über Be­schäf­ti­gung.
schwarz-weiß Portrait eines Mannes an einem Küchentisch
Johann Schlager, Nou Sasesc/Neudorf
Von der Küche selbst ist im Bild­aus­schnitt nur wenig zu sehen, jedoch er­zählen viele Details von einem ent­beh­rungs­rei­chen und spar­ta­ni­schen Leben. Ein un­ge­schön­ter Blick auf ein ge­leb­tes Zu­hause. Ein ge­stick­ter Tür­rahmen­schmuck deu­tet ein wenig Wohn­lich­keit an, die aus­schließ­lich der guten Stube im ab­ge­dun­kel­ten Raum vor­be­hal­ten ist. Die Fens­ter­lä­den blei­ben hier meis­tens auch tags­über ge­schlos­sen. Nicht wegen der neu­gie­ri­gen Blicke der weni­gen Nach­barn, son­dern um den Staub der un­ge­teer­ten Gasse draußen zu bannen. Die durch­ge­lau­fenen Holz­die­len knar­zen unter dem Tep­pich, wäh­rend die Feuch­tig­keit unauf­halt­sam die Wände hoch­kriecht. Wie der Sog der Zeit, den man nicht an­zu­halten ver­mag. Auf der Foto­gra­fie an der Wand blickt uns Jugend und Hoff­nung ent­ge­gen, die nun dem Alter und einem aus­ge­füll­ten Da­sein ge­wichen ist. Da­run­ter eine melan­cho­lische Vor­schau auf die Zu­kunft. In schnör­ke­li­ger Schrift ein­ge­stickt auf dem Wand­schoner über dem Küchen­tisch.
Wenn sich der Eltern Augen schließen,
ihr müdes Aug im Tode bricht,
dann ist das schöne Band zerrissen,
denn Elternlieb‘ vergisst man nicht!
gemalter Clip
Die Gasse vor der Kirchen­burg, das ist ein Teil der süßen Heimat Sie­ben­bür­gen. Über Jahr­hun­derte bil­deten so­wohl die Kirchen­bur­gen als auch die Nach­bar­schaften die Eck­pfei­ler des sie­ben­bür­gisch-säch­si­schen Ge­mein­we­sens. Die Kirchen­burg als In­ves­ti­tion in das Leben und die Zu­kunft, die Nach­bar­schaf­ten als ver­bind­li­che Orga­ni­sa­tion mit Rechten und Pflich­ten.
gemalter Clip
Bevor es am Richt- und Schlicht­tag ans Feiern ging, wurde Bilanz ge­zo­gen, Stra­fen ver­hängt, nach­bar­schaft­liche Strei­tig­kei­ten be­gra­ben. Für ehe­li­che Dif­fe­ren­zen stand in den meis­ten Kir­chen­bur­gen ein so­ge­nann­tes Ehe­ge­fäng­nis be­reit, in dem sich die Zer­strit­tenen not­ge­drun­gen „zu­sam­men­rau­fen“ mussten. Die Ehe galt als Sakri­leg, Schei­dun­gen waren tabu.
schwarz-weiß Portrait eines Ehepaares vor einer Kirche
Rosina und Johann Schöpp, Alzen
Seite an Seite stand man zueinan­der wie Ro­sina (82) und Johann Schöpp (88) aus Alzen. In guten wie in schlech­ten Zei­ten. Sie im prak­ti­schen Schür­zen­kleid mit Kopf­tuch, er heraus­ge­putzt mit Jä­ger­hut und Schüt­zen­ab­zei­chen, beide stolz und stand­haft vor ihrer Kirchen­burg.
gemalter Clip
Dorfikonen und Adjuvanten
Auch für Kurator und Dorf­ikone Johann Schaas (82) ist die Kir­chen­burg die Welt. Im wahrs­ten Sinne des Wortes, denn mitt­ler­weile kommen die Tou­ris­ten aus aller Herren Länder, um seinen Ge­schich­ten zu lau­schen, wenn er durch die Kir­chen­burg führt. Jo­hann und seine Jo­hanna (73) sind seit eini­gen Jahren die ein­zi­gen Sachsen in Reiches­dorf. Alle an­deren wan­der­ten früher oder später aus. Auch die ei­genen Kinder. Ihr Por­trät hat es mir be­son­ders an­ge­tan. Man spürt die Ver­traut­heit, Für­sorg­lich­keit und Wert­schät­zung, die sie einan­der ent­ge­gen­brin­gen. Aus Jo­hanns Augen blitzt der Schalk, wäh­rend es hinter Hannis Stirn kräf­tig ar­bei­tet. Soll sie ihm heute seine klei­nen Schrul­len nach­se­hen oder lieber den Kopf mal wieder ein wenig zu­recht­rü­cken?
schwarz-weiß Portrait eines Ehepaares vor einem Holztor
Johanna und Johann Schaas, Richiș/Reichesdorf
Probstdorf ist eine 500-Seelen-Ge­meinde im oberen Har­bach­tal. Und mög­li­cher­weise das ein­zige Dorf Sie­ben­bür­gens, in dem die Adju­van­ten noch auf­spie­len. Die ört­liche Blas­ka­pelle ge­hörte nicht nur zu den weni­gen Zeit­ver­trei­ben, die sich die Men­schen auf dem Dorf leis­te­ten, son­dern war auch ein fes­ter Bau­stein der säch­si­schen Tra­di­tions­ak­ti­vi­tä­ten. Zum eins­ti­gen Richt­tag wurde eben­so auf­ge­spielt wie zu Hoch­zei­ten und Be­gräb­nis­sen. Letz­teres war Ver­pflich­tung und Ehren­sache zu­gleich. Ein Trauer­zug ohne Adju­van­ten-Be­glei­tung und an­schlie­ßen­dem Tränen­brot – un­denk­bar.
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Der 82-jährige Andreas Gott­schling, der uns vom Buch­cover ver­schmitzt ent­ge­gen­blickt, weiß da­rü­ber be­stimmt reich­lich Ge­schich­ten zu er­zäh­len. In der tadel­los heraus­ge­putzten Blas­ka­pel­len-Uni­form, die Mütze ein wenig zu groß, wartet er mit seinem Blas­ins­tru­ment in den Hän­den und den bei­den Probst­dor­fer Mit­strei­tern im Buch auf den nächs­ten Ein­satz. Die Wahr­schein­lich­keit, dass es eine Hoch­zeit sein wird, ist eher ge­ring. Hoffen wir, dass den Adju­van­ten noch lange ein kräf­ti­ger und aus­dau­ern­der An­satz er­hal­ten bleibt.
Anwesende und abwesende Generationen
Die subtile Symbolik von Thomas Hellers Foto­gra­fien zeigt sich auch auf der Auf­nahme von An­dreas Kirch­ner (76) und seinem (Ur-?)En­kel Jonas (11) aus Malm­krog, einem kleinen Dorf mit einer noch un­ge­wöhn­lich gro­ßen deutsch­spra­chigen Ge­meinde. Den­noch dürf­ten die Spiel­ka­me­ra­den für den auf­ge­weckt in die Kamera bli­cken­den Jungen nicht gerade wie Sand am Meer ge­streut sein. Also heißt es, sich selbst be­schäf­ti­gen und die große Welt um die Ab­ge­schie­den­heit des Ortes im süd­li­chen Kokel­land er­kun­den. Stolz prä­sen­tiert Jonas des­halb sein Moun­tain­bike. Ein Sym­bol der Frei­heit, der Mobi­li­tät, der Mög­lich­keit, neue Wege zu gehen. Da­ne­ben, mit leicht ge­beug­ten Schul­tern, (Ur?)Opa Kirchner, der zag­haft seine linke Hand auf den Fahr­rad­sat­tel legt, um die Kluft von Tra­di­tion zu Moderne zu über­brücken.
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schwarz-weiß Portrait eines alten Mannes und eines Jungen vor einem Fahrrad
Andreas und Jonas Kirchner, Malmkrog
Doch Andreas und Jonas sind nicht die ein­zi­gen Kirch­ner-Män­ner auf dem Bild. Im Hin­ter­grund sehen wir das für die gie­bel­stän­di­gen sie­ben­bür­gisch-säch­si­schen Bauern­höfe typi­sche, mäch­tige Hof­tor. Es steht für die an­de­ren Kirch­ner-Ge­ne­ra­tio­nen. Für die­je­ni­gen, die sich hier vor Jahr­hun­der­ten nie­der­ge­las­sen ha­ben, zu­nächst als Hörige auf Komi­tats­bo­den und spä­ter, nach Ab­schaf­fung der Lei­bei­gen­schaft, als freie Bauern. Für die­je­ni­gen, die hier den Lebens­un­ter­halt ihrer Fami­lien be­strit­ten und den Hof an die nächste Ge­ne­ra­tion wei­ter­ge­ge­ben ha­ben. Und für alle die­je­ni­gen, die ge­blie­ben sind. Aller Widrig­kei­ten zum Trotz.
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In Leselaune’s Schlussansichten
Erinnerungen schaffen, wo bald Lücken klaffen, so könnte man den au­ßer­ge­wöhn­li­chen Foto­band SIEBEN­BÜRGEN SÜSSE HEIMAT von Thomas Heller mit weni­gen Worten cha­rak­te­ri­sie­ren. Vor mir liegt eine bis­her ein­zig­ar­tige Bild­do­ku­men­ta­tion über die letz­ten Sie­ben­bür­ger Sach­sen, deren Vor­fah­ren vor mehr als 800 Jah­ren vom un­ga­ri­schen König als „Gäste“ in den Land­strich inner­halb des Kar­pa­ten­bo­gens geru­fen wur­den.
Die authentischen Ganzfiguren-Por­träts des Foto­gra­fen Thomas Heller sind thema­tisch meis­ter­lich ein­ge­bet­tet zwi­schen der poe­ti­schen Er­zäh­lung holz aus dem Pro­sa­band wir gin­gen weil alle gin­gen des im Mara­mu­reş ge­bo­renen Schrift­stel­lers Thomas Perle, so­wie der kom­pak­ten Ge­schichte Sie­ben­bür­gens und der Sie­ben­bür­ger Sach­sen von Thomas Schulz, die die­ser be­reits als Mit­he­raus­ge­ber im Bild­band Kir­chen­bur­gen in Sie­ben­bür­gen. For­ti­fied Chur­ches in Trans­syl­vania ver­öf­fent­lichte.
Das Gesamtkunstwerk präsentiert sich im schmu­cken Lei­nen­ein­band, wo­bei die hoch­wer­tige Aus­füh­rung von Druck und Pa­pier dem Buch­in­halt den ästhe­tisch ver­dien­ten Rah­men gibt. Die ein­heit­lich qua­dra­ti­schen Bild­ta­feln mit einer Auf­nahme pro Seite oder Doppel­seite ge­wäh­ren den Pro­ta­go­nis­ten aus­rei­chend Platz, sich zu ent­fal­ten und dem Leser viel Raum zum Nach­den­ken. Ab­len­kung ist aus­ge­schlos­sen, denn die Schwarz-Weiß-Foto­gra­fien hal­ten die Zeit buch­stäb­lich an.
Ein Buch zum Verschenken, Nachdenken oder sich selbst Beschenken
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schwarz-weiß Portrait eines Mannes mit einer Trompete
Martin Ballasch, Reusdörfchen
schwarz-weiß Portrait eines Mannes mit Schlüssel in der HAns
Johann Deppner, Leblang
schwarz-weiß Portrait einer Frau im Hinterhof stehend
Erna Draghic, Groschenk
schwarz-weiß Portrait eines Ehepaares in ihrem Garten
Johann und Hannelore Roth, Mediasch
schwarz-weiß Portrait eines Ehepaares in ihrem Hof
Martin und Anna Meyndt, Seiburg
schwarz-weiß Portrait eines Mannes neben der Kirchenmauer
Helmuth Onghert, Gherdeal/Gürteln
Die Aufnahmen sind zwar un­spek­ta­ku­lär, da­für sen­si­bel bis intim. In­so­fern ist dieser Bild­band nicht nur für Leser mit Be­zug zu Sie­ben­bür­gen in­te­res­sant, son­dern auch für stille Be­trach­ter, die das „Ge­wöhn­li­che“ an un­ge­wöhn­li­chen Foto­mo­ti­ven schät­zen. Ein Buch zum Ver­schen­ken, Nach­den­ken oder sich selbst Be­schen­ken mit Lebens­mut, Zu­ver­sicht oder zwei vir­tu­el­len Groß­müt­tern. Ich hätte näm­lich gerne einen An­trag auf Wunsch-Groß­mut­ter-Pa­ten­schaf­ten an die 90-jäh­rige Katha­rina Bal­thes aus Klein­schenk und Anne­liese Thudt (88) aus Her­mann­stadt ge­stellt. Ein Blick in diese lächeln­den, zu­frie­de­nen Ge­sichter und kein Problem scheint mehr un­lös­bar.
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SIEBENBÜRGEN SÜSSE HEIMAT stellt eine Be­rei­che­rung für jedes Bücher­re­gal dar. Den­noch ver­misse ich, Puris­mus hin oder her, zwei wesent­li­che As­pekte. Zum einen einige er­hel­lende Worte des Foto­gra­fen, auch wenn das ge­schrie­bene Wort nicht zu sei­nem Metier ge­hört. Zu viele Fragen blei­ben für mich offen. Han­delt es sich bei den Por­trä­tier­ten um zu­fäl­lige Be­kannt­schaf­ten? Wie er­folgte die Aus­wahl der be­reis­ten Orte? Gab es be­stimmte Kri­te­rien bei der An­sprache der Foto­kan­di­da­ten? Wie rea­gier­ten sie auf die Idee der Bild­do­ku­men­ta­tion? Wähl­ten sie ihr Um­feld selbst aus? Gibt es eine Sys­te­ma­tik der Ab­folge im Buch?
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Und zum anderen ani­mieren die zahl­rei­chen Blanko­sei­ten im Buch gera­de­zu die letzten ein­hei­mi­schen Sie­ben­bür­ger Sachsen selbst zu Wort kommen zu lassen. Nur zu gerne hätte ich er­fah­ren, welche Erin­ne­run­gen oder Ge­fühle sie mit der süßen Hei­mat Sie­ben­bür­gen ver­bin­den und was sie be­wog zu bleiben. Dies hätte der foto­gra­fi­schen Leis­tung keinen Ab­bruch ge­tan, son­dern einen zu­sätz­li­chen do­ku­men­ta­rischen Mehr­wert ge­schaffen.
Herzlichst, eure Petra Sepsy
www.inreiselaune.de
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Foto vom Bildband
Kategorie: Bildband
Autoren: Thomas Heller (Bild­tafeln)
Thomas Perle (Erzählung „holz“)
Thomas Schulz („Geschichte Sieben­bür­gens und der Sieben­bürger Sachsen“)
Verlag: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Erscheinungsjahr: 2020; 1. Auflage
Ausgabe: gebunden, Leinen­einband
Umfang: 128 Seiten
ISBN: 978-3-96311-375-8
Preis: 25,00 €
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