Voievodeasa - Menschenschicksale in einem kleinen Dorf in der Bukovina
Photos: George Dumitriu Text: Nina May
Heimelig prasselt das Feuer im Kachelofen. Trandafir Cazac schenkt uns Tuica ein und beginnt zu erzählen, während seine Frau Felicia den Tisch deckt. Aus der nahen Küche mit dem mehrstufigen Holzherd duftet es nach Tocaniţa aus Steinpilzen - natürlich selbst gesammelt in den umliegenden Wäldern. Eigentlich sind wir wegen einer Reportage über das Kloster Sucevita hier, das dieses Jahr ins Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wurde. Das mit bunten Außenfresken bemalte, einer Vierkantmauer und Türmen bewehrte Kloster, liegt wie eine leuchtende Perle inmitten samtgrüner Hügel. Ein touristischer Geheimtipp, denn obwohl die Moldauklöster längst Weltruhm erlangt haben, sind sie ein Ort der Stille geblieben. Die Bukovina ist ein Paradies für Naturfreunde und Wanderer. Stundenlang kann man von einem Kloster zu andern laufen, gelegentlich begegnen einem sogar Bären oder Wölfe. Herr Trandafir zeigt uns eine alte Pionierkarte mit markierten Wegen – einer beginnt gleich hinter seinem Haus in Sucevita. An diesem gemütlichen Abend in der Pension „Casa Felicia“, an dem wir meinen, unsere Arbeit sei längst beendet, fällt plötzlich ein Wort, das uns aufhorchen lässt: Fürstenthal. George und ich spitzen wie auf Kommando die Ohren. Wir kennen dieses Land wie unsere Westentasche, doch von Fürstenthal haben wir noch nie gehört.
Auch in Westentaschen findet man manchmal etwas Neues... Nur vier Kilometer liegt das kleine Dorf, aus dem Trandafir Cazac stammt, von Sucevita entfernt. Was er darüber zu berichten hat, macht uns zumindest neugierig. Voievodeasa heisst der Ort auf rumänisch, von Voievod, dem Fürsten. Ob es nach dem moldauischen Herrscher Ieremia Movila benannt ist, dem Urenkel von Stefan dem Großen, der 1583 das Kloster Sucevita gegründet hat? Zu seinem deutschen Namen kam das Dorf jedenfalls durch die schwäbischen Einwanderer, die sich um 1830 hier angesiedelt hatten. Sie verhalfen ihm zu wirtschaftlicher Blüte, indem sie eine Glasfabrik und ein Sägewerk gründeten. Nach dem zweiten Weltkrieg verließen sie das Land wieder und ihre leerstehenden Häuser wurden an Rumänen aus Sucevita vergeben, deren Heime von den Russen vor ihrem Abzug niedergebrannt worden waren. So kamen auch Trandafir Cazacs Eltern nach Voievodeasa. Von den Deutschen blieben nur wenige Spuren – ein paar Worte haben sich in den lokalen Dialekt eingeschlichen, wie etwa „knedli“ (von Knödel) oder „dotschinei“, einer Kartoffelspeise, die ich als Reiberdatschi identifiziere. Zurück blieben auch eine katholische Kirche und ein paar alte Häuser im typisch deutschen Stil.
Neugierig beschließen wir einen Abstecher, denken an eine idyllische Dorfstory über einen Ort am Ende der Welt, mit Bildern von Kindern und Kühen vor verfallenden Schwabenhäusern. Noch ahnen wir nicht, dass wir Voivodeasa tief bewegt verlassen werden. Bereichert und beeindruckt von den Schicksalen besonderer Menschen, die wir dort nicht vermutet, nicht gesucht, aber irgendwie gefunden haben.
Den ersten Photostopp machen wir vor einem prachtvollen grünen Gebäude mit geschnitztem Einfahrtstor und bäuerlichen Ornamenten. Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine Pension handelt. Werbung hat sie nicht nötig, klärt uns die Besitzerin Doiniţa Derevlean auf, denn ihr Haus füllt sich durch Mundpropaganda. Die Stammgäste aus dem Ausland kommen immer wieder, manche schon zum zwölften Mal. Doiniţa ist mit einem Franzosen verheiratet, der 1991 erstmals in die Bukovina reiste und sich in Land und Leute verliebte. Das in der Tourismusbranche erfahrene Ehepaar begann, alte Holzhäuser aus der Gegend zusammenzutragen, die von ihren Besitzern achtlos als Brennholz verscherbelt wurden, um sie zu retten und in ihre Pension zu integrieren. Doiniţa führt uns auf den Hügel hinter dem Haupthaus, wo die alten Bauernkaten mit Kachelöfen und allem drum und dran originalgetreu wieder aufgebaut wurden. Mit einem modernen Bad nachgerüstet liefern sie ein großartiges Ferienparadies für abenteuerlustige Familien. Traurig berichtet sie vom illegalen Verkauf alter Holzhäuser aus der nahen Maramuresch nach Frankreich und nach Spanien. Wie ist dies möglich, wo doch die Ausfuhr von nationalem Kulturerbe streng verboten ist?
Ganz einfach - man zerlegt das Haus und deklariert es zu Brennholz! Gleich zwei maramurescher Bauernhöfe mussten auf diese Weise dran glauben, ihre Balken wurden zu rustikalem Parkett für das Heim eines bekannten deutschen Rennfahrers verarbeitet. Manchmal sind es jedoch gerade die Ausländer, die dazu beitragen, rumänisches Kulturgut zu retten. Doiniţa berichtet begeistert von einer deutschen Familie, die zwei alte Bauernhäuser aus Ieud vor dem Schicksal als Brennholz gerettet hat. Auch ihr eigenes Beispiel macht langsam Schule - drei Leute aus Voievodeasa konnte sie schon überzeugen, die traditionellen Häuser ihrer Großeltern zu erhalten.
Dennoch ist es ein Kampf gegen Windmühlen, denn es ist schwer, Rumänen vom Wert ländlicher Traditionen zu überzeugen. Ein Wellplastikdach nach dem anderen verunstaltet bereits den einst ursprünglichsten Landstrich Rumäniens, die Maramuresch. Wie Trandafir Cazac ist auch Doiniţa Derevlean Gründungsmitglied in der Vereinigung „Reţeaua verde“ (das grüne Netz), das sich für den Erhalt traditioneller Werte im Tourismus engagiert. Am Anfang traten der Organisation über 20 Gästehäuser in Sucevita und Umgebung bei, heute sind es nur noch fünf. Was war passiert? Die Idee war so erfolgreich, dass die zu Geld gekommenen Familien begeistert ihre Häuser renovierten, um noch mehr Komfort zu bieten! Schleichend hielt der Fortschritt Einzug, bis es zu spät war. Der ursprüngliche Charme des Hauses war irreversibel verloren. Dann blieben auf einmal die Stammgäste aus. Doiniţa hat diesen Fehler nicht begangen, obwohl wir erstaunt vernehmen, dass das schmucke grüne Haupthaus neu ist! Ein Meister aus Straja, einem Dorf nahe an der ukrainischen Grenze, hat es nach alten Vorlagen nachgebaut.
Vor Doiniţas Haus treffen wir den Dorfpolizisten Bogdan Caba, der uns zur katholischen Kirche bringt. Wir fragen ihn nach den alten Schwabenhäusern, in der Annahme, er stamme von hier. Doch auch der nette junge Mann hat sich wie der Franzose in Voievodeasa festgeküsst. Nur kurz zu Besuch, um seinen gelähmten Großvater aus dem Dorf nach Suceava ins Krankenhaus zu bringen, traf er in der Ambulanz auf eine junge Frau, die dort ebenfalls mit ihrem Opa im Rollstuhl wartete. Es war die Witwe des orthodoxen Pfarrers von Voievodeasa. Das gemeinsame Schicksal verband die jungen Leute. So kam es, dass kurze Zeit später Hochzeit gefeiert wurde und Bogdan schlagartig Vater von drei Kindern wurde, die er aus der früheren Ehe seiner Frau geerbt hatte.
Wir betreten die moderne katholische Kirche, sehen uns um. Die Gesichter auf den bunten Glasfenstern tragen deutsche Namen. Ansonsten keine Spur mehr von den früheren Einwanderern. In den Bänken liegen Gebetsbücher und Kirchenblätter in rumänisch. Auf einmal tut es hinter uns einen lauten Plopp. Was war das? Eine einsame Fledermaus ist von der Decke gefallen! George trägt das leblose Tierchen vorsichtig ins Freie. Ob es in der kalten Kirche eingefroren ist?
Wir betten es auf eine sonnenbeschienene Steinplatte, in der Hoffnung, dass es sich erholt. Erst jetzt sehen wir, dass dort bereits ein lebloser Artgenosse liegt. Daneben Blutspuren und ein rotbefleckter Stein. Auch ein Liebespaar aus Voievodeasa... aber diesmal mit traurigem Ende. Ein Pferdewagen überholt uns in rasendem Galopp. Die Jungen auf dem Kutschbock lachen fröhlich und winken uns zu. Wir folgen der Straße zu Fuß bis zu dem immer noch funktionierenden Sägewerk. Ich muss an die resignierte Stimme von Herrn Cazac denken, der die vielen illegalen Holztransporte aus der Bukovina am liebsten eigenhändig aufhalten möchte.
Da kommt uns ein alter Mann entgegen, der einen dünnen Baumstamm wie einen Hund an der Leine hinter sich herzieht. „Oooh - was haben wir denn da!“ George kann nicht an sich halten, er muss die Leute immer gleich ansprechen. Der Mann lächelt verschmitzt und zeigt auf sein Haus. „Ich kann doch nicht heimkommen, ohne meiner Frau etwas mitzubringen“, meint er scherzhaft.
Ein Stück Brennholz statt Blumen! Dann stellt er seine Plastiktüten ab und lässt uns einen Blick hinein werfen. Pilze – im November! Zwischen wehenden bunten Wäschestücken tritt nun auch die Ehefrau des Alten aus der Gartenpforte, offenbar erfreut über die Abwechslung.
Während wir im strahlenden Sonnenschein plauschen, versammeln sich immer mehr Kinder um uns. Ein Zigeunermädchen fragt George vorwitzig, warum er denn weiße Haare habe. Dem lieben Gott sei die schwarze Farbe ausgegangen, gibt dieser schlagfertig zurück.
Auf einmal kommen sechs Blondschöpfe die Straße hinauf, aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Die alte Frau zeigt mitleidig auf das älteste Mädchen, dass ihr jüngstes Schwesterchen auf dem Arm trägt und liebevoll an sich presst. „Das ist Petruţa – sie zieht ihre Geschwister auf. Die Mutter ist Alkoholikerin und hat sich aus dem Staub gemacht.“ Petruţa ist 14, schmächtig, sie sieht aus wie zehn. Ihre Geschwister sind 3, 5, 7, 10 und 12. Fünf Mädchen und ein Junge. Die Nachbarin berichtet von der katastrophalen Überschwemmung, die Voievodeasa in diesem Jahr heimgesucht hat.
Vor den Augen der Kinder, die sich auf den Dachboden geflüchtet hatten, hatte es in der Nachbarschaft ein halbes Haus weggerissen, während sich ihr Vater draußen verzweifelt abmühte, sein Heim mit Brettern zu stabilisieren. Wir gehen ein paar Meter die Straße hoch. Vor dem zerstörten Haus steht nun ein kleiner Baucontainer mit Vorhängen an den Fenstern.
Ein Junge zeigt uns den Bach, der das ganze Dorf überschwemmte. Unschuldig schlängelt sich das winzige Gewässer im Straßengraben zwischen den Häusern durch. Während wir mit Petruţa plaudern, erscheint am Fenster eine alte Frau mit roten, entzündeten Augen. Oder hat sie etwa geweint?
Es ist die 90-jährige Uroma, die mit einem gebrochenen Bein das Bett hütet. Und auch der 70jährige Onkel lebt in dem kleinen Häuschen. Wo finden die vielen Leute nur Platz zum Schlafen? Wie mag es wohl innen aussehen? Wer legt ihnen den Weißkohl für den Winter ein? Wir wollen nicht aufdringlich sein. Petruţa rennt eifrig ins Haus, um uns ein Foto von ihrem Vater zu zeigen. Von ihm haben die Kinder die weißblonden Haare geerbt.
Da kommt der junge Mann auch schon zufällig die Straße hochgeschlendert. Seine Armmuskeln verraten, er ist körperliche Arbeit gewöhnt. Die Mädchen springen ihm freudig entgegen und er nimmt das Nesthäkchen hoch. Der 37jährige ist der einzige Versorger der Familie und arbeitet als Tagelöhner im Wald – wenn es denn Arbeit gibt. Wir versprechen ihm, Hilfe zu organisieren und er lächelt bescheiden. Jede Art von Unterstützung sei willkommen. Zum Abschied frage ich Petruţa, was sie denn einmal werden möchte. Für Sekundenbruchteile erhellt sich ihr viel zu ernstes Gesicht und sie antwortet strahlend: Tänzerin!
Als wir Voievodeasa bei einbrechender Dunkelheit verlassen, treffen wir zufällig wieder auf Bogdan, diesmal mit seiner Frau. Sie begrüßen uns wie alte Bekannte und wollen uns zu einem Bauernball einladen, doch leider müssen wir weiter. Schweigend sitzen wir im warmen Auto und denken an die tapferen Menschen, unsere Helden des heutigen Tages: Doiniţa, Petruţa, der alte Mann mit dem Baumstamm... Erst jetzt fällt uns auf, dass wir die Schwabenhäuser überhaupt nicht gesehen haben!
Nachtrag: Auf dem Rückweg hielten wir im Kloster von Podu Cosnei und berichteten dem Abt, der dort eine Stiftung zur Unterstützung vernachlässigter Kinder betreibt (siehe Adventskalenderbeitrag 2009), von den Kindern in Voievodeasa. Bereits am nächsten Morgen stattete Vater Mihai der Familie persönlich einen Besuch ab. Er bestätigte deren schwierige Lage, brachte Lebensmittelpakete und Kleiderspenden. Die Kinder aus Voievodeasa werden von nun an von den Hilfslieferungen aus den privaten Initiativen profitieren, die als Folge des letzten Adventskalenderbeitrags Podu Cosnei erreichten. Den lieben Spendern sei auf diesem Wege noch einmal ganz herzlich gedankt!
Über uns: Nina May lebt in Rumänien, schreibt Artikel (Allgemeine Deutsche Zeitung: Tourismus, Leben), Serien (Rasunetul: „Puterea gandului“), Bücher („Wie sich Wünsche erfüllen“ „Reise über den großen Fluß“, „The Blue Sphere“) und Kindergeschichten („Ingerasul bucuriei“).
George Dumitriu fotografiert seit über 20 Jahren nationales Kulturerbe in Rumänien und ist international bekannt als Spezialist für Photografie von historischen Kunstobjekten. Zusammen mit Nina May sind in diesem Jahr im Sfera Albastra Verlag drei Foto-Broschüren erschienen: „Manastirea Podu Cosnei“, „Ion Irimescu – Confesiuni“, „Rosia-Rothberg“.